Leichtathletik: Sind moderne Schuhe Schuld an Verletzungen?

    Interview

    Viele Ausfälle in Leichtathletik:Sind moderne Schuhe Schuld an Verletzungen?

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    Viele Top-Leichtathleten müssen bei der WM verletzt passen. Welche Rolle spielen dabei die modernen Carbon-Schuhe? Ein Experte für Biomechanik über mögliche Zusammenhänge.

    Gina Lückenkemper (vorne) beim Zieleinlauf
    Auch Deutschlands Sprintstar Gina Lückenkemper (vorne) setzt auf die modernen Carbon-Schuhe.
    Quelle: dpa

    Das deutsche Team startet personell geschwächt in die Leichtathletik-WM vom 19. bis 27. August in Budapest. Die verletzungsbedingten Ausfälle häufen sich, auch international. Alles Zufall? Extreme Vorsicht ein Jahr vor Olympia? Oder etwa ein Material-Problem?
    100-Meter-Europameisterin Gina Lückenkemper erklärte zumindest einen Teil der Verletzungen zuletzt in der ARD so: "Diese ganze Entwicklung mit den Carbon-Schuhen und diesen Bouncer-Spikes ist mit ein bisschen Vorsicht zu genießen." Es sei "echt extrem, wie viele Athleten aktuell mit irgendwelchen Achillessehnen-Problemen oder Fußproblemen zu tun haben".

    Nafissatou Thiam (Belgien), Siebenkampf-Olympiasiegerin, Grund: Achillessehnen-Probleme
    Sydney McLaughlin-Levrone (USA), 400-Meter-Hürden-Weltrekordlerin, Knieprobleme
    Konstanze Klosterhalfen, 5.000-Meter-Europameisterin, Fußprobleme
    Malaika Mihambo, Weitsprung-Olympiasiegerin und -Weltmeisterin, Muskelfaserriss im Oberschenkel
    Bo Kanda Lita Baehre, EM-Zweiter im Stabhochsprung, Knieverletzung nach einem Sturz
    Lea Meyer, EM-Zweite über 3.000 Meter Hindernis, Rückenbeschwerden
    Thomas Röhler, Speerwurf-Olympiasieger, noch nicht wieder fit nach Rückenproblemen
    Johannes Vetter, ehemaliger Speerwurf-Weltmeister, noch nicht wieder fit nach Schulterproblemen
    Alexandra Burghardt, Europameisterin und WM-Dritte mit der Sprint-Staffel, Rückenprobleme
    Lisa Mayer, Europameisterin mit der Sprint-Staffel, Oberschenkelverletzung

    Sie selbst nutze die Hightech-Schuhe auch, so Lückenkemper: "Wenn du dich mit so einem Schuh triffst, dann geht es richtig ab. Aber wenn du dich mit so einem Schuh nicht triffst, dann geht der Schuss auch ganz gerne mal nach hinten los." Was hinter diesem Verdacht steckt, erklärt Biomechanik-Professor Gert-Peter Brüggemann.
    ZDFheute: Herr Brüggemann, mehrere aktuelle Lauf-Rekorde in der Leichtathletik werden den modernen Schuhen zugeschrieben. Zurecht?
    Gert-Peter Brüggemann: Ja, das glaube ich schon. Die Schuhe haben sich seit etwa fünf Jahren massiv verändert. Zum einen sind die Sohlen dicker und höher geworden, insbesondere bei den Schuhen, die auf den Langstrecken getragen werden. Das liegt an den neuen, weichen und extrem responsiblen Schäumen der Mittelsohlen. Aktuell werden häufig so genannte Nitro-Schäumen verwendet. Bei diesen werden herkömmliche Elastomere unter Vakuum mit Stickstoff aufgebläht.

    Sport: Professor Gert-Peter Brüggemann.
    Quelle: ZDF

    ... leitete viele Jahre das Institut für Biomechanik und Orthopädie an der Deutschen Sporthochschule in Köln und beriet namhafte Sportschuhhersteller wie Nike, Asics oder Brooks bei biomechanischen Fragen. Im Ruhestand gründete der 71-Jährige 2019 die Laufschuh-Marke "True Motion" und tüftelt seither an Schuhen, die das Verletzungsrisiko von Läufern reduzieren sollen.

    Dadurch kann mehr Material bei weniger Gewicht verbaut werden. Diese Sohlen können bei der Landung mehr Energie aufnehmen und geben bis zu 80 Prozent der absorbierten Energie wieder zurück. Dadurch wird die Muskulatur des Läufers entlastet, die Muskelarbeit bei gleicher Laufgeschwindigkeit reduziert. Die Laufökonomie wird höher.

    Es wird weniger Energie gebraucht - oder anders gesagt: Ich kann mit meiner verfügbaren Energie länger oder schneller laufen.

    Gert-Peter Brüggemann über die neuen Laufschuhe

    ZDFheute: Und zum anderen?
    Brüggemann: Zum anderen wurden Carbon-Platten in die Sohlen integriert. Die primäre Idee war, die Sohle insbesondere im Vorfußbereich zu versteifen und damit den Energieverlust im Zehengrundgelenk zu reduzieren. Es hat sich aber gezeigt, dass das bei den Schuhen für die langen Strecken wenig Effekt hat und der dominante Vorteil aus den neuen, dicken Schäumen resultiert.
    Anders sieht das bei den Spikes für die Sprintdisziplinen aus: Da hat die steife, gebogene Carbon-Platte in der Mittelsohle dazu geführt, dass mehr Kraft über die Achillessehne zum Antrieb verwendet werden kann. Dadurch werden aber auch die Belastungen für die Athleten von Fuß und Achillessehne höher.
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    ZDFheute: Somit könnte Sprint-Europameisterin Gina Lückenkemper recht haben, wenn sie sagt, die Entwicklung der modernen Schuhe sei mit Vorsicht zu genießen.
    Brüggemann: Durch die dicken Sohlen steht der Fuß höher und die Sohle erfährt eine größere Verformung; das macht das System insgesamt instabiler und erhöht möglicherweise das Risiko, sich zu verletzen. In den mit Carbon versteiften Spikes werden die Strukturen unter dem Fuß und die der Achillessehne und des Kniegelenks deutlich mehr genutzt - und auch belastet.

    In Bezug auf den Freizeitläufer konnten wir zeigen, dass bei diesen Technologien eine erhöhte Verletzungshäufigkeit auftritt. Aber es gibt noch keine belastbaren Untersuchungen an Top-Athleten.

    Gert-Peter Brüggemann

    ZDFheute: Worauf müssen Sportler achten, wenn sie diese Schuhe nutzen?
    Brüggemann: Ich denke, sie sollten ihre körperlichen Strukturen sehr langfristig auf die veränderten biomechanischen Bedingungen vorbereiten und möglicherweise nicht zu schnell und zu intensiv ausschließlich mit diesen neuen Technologien arbeiten.
    ZDFheute: Sie haben bereits viele Jahre Laufschuh-Entwicklung begleitet. Gibt es ein Zurück bei diesen Hightech-Schuhen, wenn sich die erhöhte Verletzungsanfälligkeit bewahrheitet?
    Brüggemann: Ich befürchte, dass wir hier nicht zu einer Veränderung der Technologie kommen werden. Das Primat im Leistungssport ist nun mal die Leistungsmaximierung, sie wird oft leider als wichtiger erachtet als die Gesunderhaltung des Sportlers.
    Das sehen wir auch beim Laufschuh für den Breitensportler, da hat sich die Verletzungsrate in den letzten 30 Jahren trotz aller technischer Weiterentwicklung der Schuhe nicht verändert. Erst jetzt beginnt man so langsam, das Problem der Überbelastung und der Verletzungshäufigkeit in den Fokus zu nehmen.
    Das Interview führte Susanne Rohlfing.

    Titelkämpfe 2023 in Budapest
    :Alles Wichtige zur Leichtathletik-WM

    In Budapest findet vom 19. bis 27. August die Leichtathletik-WM 2023 statt, ARD und ZDF übertragen im TV und Livestream. Antworten zu den wichtigsten Fragen rund um die WM.
    von Klemens Hempel
    Das für die WM 2023 neu errichtete Nationales Leichtathletikzentrum in Ungarn von innen.
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