Mittelkürzungen: "Sport und Bewegung sind systemrelevant"

    Interview

    Haushaltsdebatte um Kürzungen:"Sport und Bewegung sind systemrelevant"

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    Arzt und Sportfunktionär Martin Engelhardt bezeichnet eine Kürzung der staatlichen Mittel für den Sport als "grundlegenden Fehler", da die Folgekosten "viel, viel höher" wären.

    Schülerinnen beim Schwimmunterricht im Hallenbad
    Experte Prof. Engelhardt schätzt die Bedeutung von Sport für Kinder hoch ein.
    Quelle: dpa

    ZDFheute: Herr Prof. Engelhardt, noch bis Freitag wird im Bundestag über den Haushaltsentwurf für 2024 debattiert. Für den Spitzensport sind Kürzungen um zehn Prozent von rund 303 auf etwa 276 Millionen Euro vorgesehen. Sie halten das für eine sehr schlechte Idee. Warum?
    Martin Engelhardt: Ich halte das für einen grundlegenden Fehler. Wir müssen als Gesellschaft rund 60 Milliarden Euro pro Jahr für Adipositas-Patienten ausgeben, das hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Diakonie untersucht. 30 Milliarden für medizinische Behandlungen und nochmal 30 Milliarden für Ausfall am Arbeitsplatz und Frühberentung. Dahinter steckt nichts Anderes als Bewegungsarmut und Fehlernährung.
    ZDFheute: Aber es kann ja nicht jeder Spitzensportler werden.
    Engelhardt: Nein. Aber wir müssen uns als Gesellschaft fragen: Was wollen wir eigentlich? Wollen wir eine kranke Gesellschaft? Wollen wir körperlich sehr eingeschränkte Menschen? Über 16 Prozent unserer Kinder sind bereits adipös, annähernd 50 Prozent der Zehnjährigen können nicht mehr richtig schwimmen, annähernd genauso viele Kinder können keine 1.000 Meter mehr am Stück im Stadion laufen. Das sind erschreckende Zahlen.
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    ZDFheute: Was haben adipöse Menschen und Kinder, die nicht schwimmen können, mit Spitzensportlern zu tun, die weniger gefördert werden?
    Engelhardt: Wir brauchen erfolgreiche Spitzensportler als Vorbilder. Ob Boris Becker und Steffi Graf im Tennis, Ronald Rauhe im Kanusport oder die Fußballer, die eine WM gewonnen haben – die Kinder wollen ihnen nacheifern, sie werden durch Vorbilder zum Sporttreiben animiert. Auch wenn sie selbst nicht unbedingt Hochleistungssport betreiben.
    Deshalb ist es wichtig, dass wir als Land im Sport erfolgreich sind, dass wir symbolisieren, dass uns das gesellschaftlich etwas wert ist. In Norwegen etwa werden Schülern 60 Minuten Sportunterricht pro Tag zugestanden, von der ersten bis zur letzten Schulklasse, durchgeführt von qualifizierten Kräften. Bei uns gibt es ein bis zwei Stunden pro Woche und oft fallen auch die aus, weil entsprechend ausgebildete Lehrer fehlen. Auch da müssen wir umschalten.
    ZDFheute: FDP-Finanzminister Christian Lindner will insgesamt sparen im kommenden Jahr, da müsse abgesehen vom Verteidigungsministerium jedes Ressort seinen Teil beitragen, heißt es. 
    Engelhardt: Das ist meiner Ansicht nach im Sport eine Milchmädchenrechnung, die Folgekosten für die Gesellschaft sind viel, viel höher. Die Förderung des Sports ist eine effektiv präventive Maßnahme. Nicht nur gesundheitlich, sondern auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für die Wertevermittlung. Wir sind eine soziale und eine Leistungsgesellschaft.
    Wir können uns den Sozialstaat in dem Maße, wie wir in aktuell haben, aber nur leisten, wenn wir leistungsmäßig performen. Und diese Werte werden im Sport bevölkerungsübergreifend vermittelt. Sie sehen an vielen Beispielen erfolgreicher Athleten, dass sie auch im gesamten Leben wesentlich erfolgreicher sind als diejenigen, die keinen Sport treiben.
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    ZDFheute: Die Lese- und Rechenfähigkeit der Kinder geht zurück, wir haben zu wenig Lehrer und eine marode Infrastruktur. Müsste nicht eher in Bildung investiert werden als in den Sport?
    Engelhardt: Auch da besteht ein Denkfehler. Die Lese- und Rechtschreibschwäche deutscher Kinder hängt auch mit dem mangelnden Sporttreiben zusammen. Nicht nur die motorische Entwicklung, sondern auch die kognitive Entwicklung von Kindern wird durch Sporttreiben maßgeblich gefördert. Sport und Bewegung sind aus meiner Sicht daher systemrelevant.
    Wir müssen uns bewegen, um gesund zu bleiben und eine gewisse Lebensqualität zu haben. Und der soziale Aspekt darf nicht vergessen werden. Wenn das Vereinsleben im Sportklub vernünftig funktioniert, profitieren die Schwächeren, auch im schulischen Bereich. Was da an Arbeit automatisch mit geleistet wird, das könnte der Staat gar nicht bezahlen. Er sollte daher, wo er nur kann, das Signal geben, dass das gewünscht ist und unterstützt wird.  

    Martin Engelhardt
    Quelle: dpa

    ... ist 63 Jahre alt und Chefarzt am Klinikum Osnabrück, er ist Orthopäde, Unfallchirurg und Chirotherapeut. Seit 2000 fungiert er ehrenamtlich als Vorstandsvorsitzender der Institute für Angewandte Trainingswissenschaften (IAT) und für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES).

    Den beiden Einrichtungen sollen für 2024 knapp 20 Prozent ihres Etats der vergangenen zwei Jahre gestrichen werden.

    Außerdem ist Engelhardt seit 2011 wieder Präsident der Deutschen Triathlon Union. Das Amt hatte er bereits von 1987 bis 2001 inne. Sportlich war er als Läufer, Bundesligaschwimmer und Triathlet aktiv.

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    von Susanne Rohlfing
    Kanu
    Quelle: das Interview führte Susanne Rohlfing
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