Pestizide - Eine vergiftete Debatte | Terra-X-Kolumne
Kolumne
Terra X - die Wissens-Kolumne:Pestizide - Eine vergiftete Debatte
von Christian Scharun
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Pestizide gelten in der konventionellen Landwirtschaft als Wunderwaffe gegen Schädlinge, Krankheiten und Unkraut. Doch diese Waffe hat sich längst auch gegen uns selbst gerichtet.
Obwohl die negativen gesundheitlichen und ökologischen Folgen eines übermäßigen Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln lange bekannt sind, steigt der Einsatz weltweit immer noch an. Vor allem Landarbeiter im globalen Süden sind von Pestizidvergiftungen betroffen: jährlich weltweit fast 400 Millionen Menschen. Doch die Gefahr lauert nicht nur direkt an Äpfeln, Kartoffeln oder Mais. Pestizide können mit dem Wind bis zu 1.000 Kilometer weit transportiert werden.
In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Geld vor Gesundheit
Selbstverständlich hat die EU auch zu diesem Thema ein Portfolio an komplizierten Gesetzen auf Lager. Geregelt werden neben der Zulassung, Verpackung und Kennzeichnung auch die einzuhaltenden Grenzwerte in der Natur. In Deutschland werden diese jedoch bei Messungen immer wieder überschritten. Etwa die Hälfte der Proben aus deutschen Kleingewässern überschreitet die Grenzen zum Teil um das Hundertfache und mehr.
Vier Millionen Tonnen Pestizide werden jährlich weltweit versprüht. Die Rückstände landen über Obst und Gemüse auf unseren Tellern. Landwirte und auch Städte wollen etwas dagegen tun.22.08.2024 | 29:44 min
Eigentlich wollte die EU im Rahmen ihres European Green Deals ein Gesetz auf den Weg bringen, mit dem der Einsatz von insbesondere als gefährlich eingestuften Pestiziden bis 2030 um die Hälfte reduziert werden sollte. Weil konservative Stimmen vor der zu großen finanziellen Belastung für die Landwirtschaft warnten, kippte die EU das Gesetz kurzerhand wieder. Eine Entscheidung für Profit, aber gegen Umwelt und Gesundheit, die von Naturschutzorganisationen stark kritisiert wurde.
Die Lösung könnte genial digital sein
Geld spielt in der vergifteten Debatte um die Pflanzenschutzmittel in der Tat eine wichtige Rolle - so wird der weltweite Pestizidmarkt auf über 80 Milliarden US-Dollar geschätzt. Groß im Geschäft sind auch bekannte deutsche Unternehmen wie BASF und Bayer. Viele der Mittel sind hierzulande zwar verboten, werden aber in Europa für den internationalen Markt hergestellt und machen große Teile des Umsatzes der Weltmarktführer aus. Etwa vier Milliarden Kilogramm Pestizide werden Schätzungen zufolge jährlich ausgebracht - das sind pro Erdenbürger etwa ein halbes Kilo Pflanzenschutzmittel.
Greenpeace identifiziert mehrere in der EU verbotene Pestizide auf Südfrüchten. Diese werden hier weiterhin produziert und in Ländern wie Brasilien auf dem Feld eingesetzt.25.09.2023 | 7:45 min
Eine deutliche Reduktion von Pestizideinsatz ohne Einbußen bei der Effizienz verspricht die Präzisionslandwirtschaft. Es gibt bereits Feldversuche, bei denen konventionelle Landwirte und Bio-Bauern zusammenarbeiten, um beispielsweise durch digitale Anwendungen das genaue Dosieren von Düngern und Pflanzenschutzmitteln zu vereinfachen.
Wir wissen nicht, was alles zusammenhängt
Von allen landwirtschaftlichen Produkten, die in Deutschland angebaut werden, ist der Apfel mit großem Abstand am meisten pestizidbelastet. 20-30 Mal pro Saison werden die Obstbäume gespritzt. Die Mittel gelangen tonnenweise in die Natur und stellen den größten Einzelfaktor des fortschreitenden Artensterbens dar. Und die Zusammenhänge sind längst nicht alle erforscht: So konnten Wissenschaftler plausibel begründen, dass eine Verbindung zwischen Fledermäusen, dem Einsatz von Insektenschutzmittel und einer erhöhten Säuglingssterblichkeit in den USA besteht.
Ernährungssicherheit und Umweltschutz stehen immer wieder im Konflikt. Können wir die Bevölkerung ernähren und gleichzeitig unsere biologischen Lebensgrundlagen sichern?29.09.2024 | 28:36 min
Was verrückt klingt, ist gleichermaßen dramatisch wie logisch. Nachdem die Zahl von Fledermäusen aufgrund einer Erkrankung drastisch zurückging, mussten Landwirte deutlich mehr Insektizide anbringen, da die Schädlinge nun nicht mehr von den Fledermäusen gefressen wurden. Dies wiederum wirkte sich drastisch auf die Gesundheit von Neugeborenen aus und sorgte in den Jahren nach dem Fledermaussterben auch für eine erhöhte Säuglingssterblichkeit.
Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen
Vor diesem Hintergrund schätzen manche Experten, dass wir unseren Pestizideinsatz sogar um etwa 97 Prozent reduzieren müssten, um Ziele beim Naturschutz zu erreichen, Grenzwerte einzuhalten und die Gefahren zu minimieren. Das gescheiterte EU-Gesetz hätte also lange nicht ausgereicht, wäre aber ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung gewesen. So müssen wir uns eingestehen, dass wir für einen knackigen, süßen (und gespritzten) Apfel zwar hoch in den Baum geklettert, jedoch geradewegs dabei sind, an dem Ast zu sägen, auf dem wir nun sitzen.
... ist wissenschaftlicher Autor in der Redaktion von MAITHINK X. Wissenschaftliche Inhalte kommuniziert er auf unterhaltsame Art und Weise auch bei Science Slams sowie auf YouTube und anderen sozialen Netzwerken. 2022 konnte er mit "FameLab Germany" einen der größten Wettbewerbe für Wissenschaftskommunikation gewinnen. Neben seiner Passion zur Wissenschaft selbst war Christian Scharun als Klimaforscher aktiv. Dabei beschäftigte er sich mit den Emissionen von Treibhausgasen und simulierte mit Klimamodellen ihren Beitrag zur globalen Erwärmung.
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