"Hey, wir wollen Eisbären sehen" - in Churchill kein Problem. Dort leben Menschen und Bären in friedlicher Koexistenz. Doch der Klimawandel nimmt den Tieren die Lebensgrundlage.
Mein Nachbar, der Eisbär - was nach einem Einstieg in einen fiktiven Abenteuer-Roman klingt, könnte in Churchill Auszug eines Tagebucheintrags sein. "Welthauptstadt der Eisbären" - so nennt sich die kanadische Kleinstadt an der Küste der Hudson Bay, und das ist keine Übertreibung. In dem 800-Seelen-Ort leben Menschen "Tür an Tür" mit den größten Landraubtieren der Welt.
"Theoretisch besteht das ganze Jahr über die Möglichkeit, beim Wandern auf einen Eisbären zu treffen", erzählt die Österreicherin Claudia Grill, die seit 2016 in Churchill lebt. "Doch, auch wenn die Bären hin und wieder vor meinem Schlafzimmerfenster auftauchen könnten", im Winter beschäftigen sich die Raubtiere vor allem mit der Jagd auf Robben.
Etwa 900 Eisbären wandern im Herbst jährlich vom Landesinneren an die Küste Churchills. Sie warten dort, bis das Meer zufriert und ihre Beute auftaucht. Den ganzen Sommer über haben sie kaum etwas gefressen, entsprechend groß ist der Hunger.
Die Eisbären und der Klimawandel
Die Wartezeit der Eisbären ist die gefährlichste Zeit für Churchill. Dann gehört es zur Tagesordnung, dass auch mal ein hungriger Bär durch die Stadt trottet. Seit den 1960er-Jahren kamen immer mehr Tiere in die Stadt, die Einwohner*innen dachten an eine Zunahme des Eisbären-Bestandes.
Die traurige Wahrheit: Untersuchungen der Weltnaturschutzunion IUCN ergaben, dass sich Churchills wachsende Attraktivität bei den Eisbären nicht durch ihre größer werdende Population erklärt, sondern eine Folge des Klimawandels ist.
Die wegen der globalen Erderwärmung immer früher einsetzende Eisschmelze und die immer später einsetzende Eisbildung verkürzt die Jagdzeit der Tiere, macht Sybille Klenzendorf klar. 22 Jahre lang hat sie für die Umweltorganisation WWF die USA-Artenschutz-Abteilung geleitet. Mindestens einmal im Jahr war sie dafür in Churchill. "Weil die Bucht immer länger eisfrei bleibt, bleiben die Bären länger an Land und das begünstigt auch, dass sie öfter in die Kleinstadt kommen."
Die Eisbären haben somit weniger Zeit, um sich eine Fettschicht für die Sommer- und Herbstmonate anzufressen. Die Folge: Die Tiere verlieren kontinuierlich Gewicht und bekommen deshalb auch weniger Nachwuchs. "Wenn die erwachsene Generation stirbt, kommt keine neue nach - deshalb ist der Rückgang sehr abrupt", sagt Klenzendorf.
Zukunft der Churchill-Eisbären
"Grundsätzlich haben die Menschen großen Respekt vor den Bären, nicht nur, weil sie Raubtiere sind, denen man besser nicht zu nahekommt", erzählt Grill. "Sondern auch, so sagen viele, weil sie einfach zuerst hier waren und ihnen Churchill quasi mitten auf ihre jährliche Migrationsroute "gesetzt" worden ist."
Das Zusammenleben von Mensch und Raubtier, das funktioniere sehr gut, so Grill. Doch wie lange noch, wenn die globale Erderwärmung die Hudson Bay immer später zufrieren lässt? "Die Eisbären sind wahrlich die Könige der Arktis, mächtig und respekteinflößend – und gleichzeitig so fragil", stellt die 38-Jährige fest. Das gilt für die Churchill-Bären genauso wie für Eisbären weltweit.
"Früher wurden Eisbären, die zu gefährlich wurden, geschossen, heute versucht man jeden Einzelnen zu retten", macht Artenschutzexpertin Klenzendorf klar und wird dann grundsätzlich: "Vorhersage ist, dass wir bis 2050 ungefähr ein Drittel der Eisbär-Population verlieren werden. Das Drittel können wir nicht mehr aufhalten, aber dass wir die Art verlieren, die ganze Spezies, das können wir mit dem Pariser Klimaschutzabkommen noch verhindern."
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