Psychotherapie: Kinder und Jugendliche müssen lange warten

    Interview

    Psychotherapie für Kinder:Angebote "nicht mal Tropfen auf heißen Stein"

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    Heranwachsende leiden psychisch stark unter aktuellen Krisen und müssen viel zu lange auf Hilfe warten - oft mit extremen Folgen, beklagt Psychologieprofessor Julian Schmitz.

    Brandenburg, Potsdam: Eine Jugendliche blickt aus einem Fenster.
    Zu oft müssen Kinder und Jugendliche zu lange auf einen Therapieplatz warten, was die Probleme oft noch viel größer macht.
    Quelle: dpa

    ZDFheute: Infolge der Corona-Pandemie haben Mediziner bei Heranwachsenden einen deutlichen Anstieg von Suizidversuchen beobachtet. Wie nehmen Sie die aktuelle Entwicklung wahr?
    Julian Schmitz: Suizidversuche sind das dramatischste Ergebnis, wenn es Kindern und Jugendlichen sehr schlecht geht, das traurige Ende eines oft langen Leidenswegs. Im Zuge der Corona-Pandemie haben Ängste, Depressionen und Essstörungen bei Heranwachsenden stark zugenommen. Und Studien belegen, dass das Stresserleben in dieser Altersgruppe weiter auf einem hohen Niveau ist.

    Psychologieprofessor Julian Schmitz

    … ist ausgebildeter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. An der Universität Leipzig hat er die Professur für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie inne. Zudem leitet er dort die angegliederte Psychotherapeutische Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche.

    ZDFheute: Worin sehen Sie die Hauptursachen dafür?
    Schmitz: Wir sehen Kinder und Jugendliche sehr starken und multiplen gesellschaftlichen Krisen ausgesetzt. Pandemiefolgen, der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel, aber auch Belastungen durch Personalmangel an den Schulen: All das hinterlässt Spuren bei Heranwachsenden.
    Bei vielen hat die Widerstandskraft abgenommen. Sie sind geschwächt und jede weitere Belastung schlägt heftig durch. Gleichzeitig fühlen sich viele mit ihren Sorgen und Ängsten alleingelassen, weil Familien und Schulen selbst auf der letzten Rille laufen und den Heranwachsenden wenig Halt und Sicherheit bieten können.
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    ZDFheute: Sie leiten in Leipzig die Psychotherapeutische Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche und sehen dort - wie anderenorts auch - das Hilfesystem am Limit. Was bedeutet das konkret?
    Schmitz: Selbst psychisch schwer kranke Kinder und Jugendliche bekommen in Deutschland in den allermeisten Fällen nicht rechtzeitig einen ambulanten Psychotherapieplatz, es gibt im Schnitt extrem lange Wartezeiten von mehr als einem halben Jahr. Wenn wir dann einen Platz anbieten können, sehen wir häufig, dass die Heranwachsenden inzwischen so stark beeinträchtigt sind, etwa durch wiederkehrende Suizidgedanken, dass sie stationäre Hilfe bräuchten. Aber selbst diese Kinder finden in den seltensten Fällen die Behandlung, die sie dringend bräuchten.
    ZDFheute: Was macht das mit den Helferinnen und Helfern?
    Schmitz: Die schlechte Versorgungssituation führt bei vielen zu einer großen Verzweiflung und Hilflosigkeit. Das zeigen auch Daten, die wir erhoben haben.
    ZDFheute: Was geschieht während der langen Wartezeit mit den Kindern und Jugendlichen?
    Schmitz: In der Regel verschlechtern sich deren Symptome deutlich. Damit wird es immer schwieriger, zeitnah eine Besserung zu erreichen. Im Gegenteil:

    Die psychischen Erkrankungen können sich relativ schnell chronifizieren und verschlimmern. Das heißt: Die Heranwachsenden brauchen dann eine noch intensivere Behandlung.

    Julina Schmitz, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut

    Dabei könnte sich die Gesellschaft viel Leid und auch Kosten ersparen, wenn es einen flächendeckenden Ausbau niedrigschwelliger Angebote gäbe, etwa durch Sozialarbeiter und Psychologen in Schulen.

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    ZDFheute: Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie, deren Mitglied Sie sind, fordert seit längerem mehr professionelle Hilfsangebote. Gleichzeitig mehren sich die Stimmen jener, die den Staat dabei versagen sehen. Wie ist Ihre persönliche Position dazu?
    Schmitz: Die Politik hat erkannt, dass es diese anhaltend sehr hohe Belastung in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen gibt. Es gibt je nach Bundesland auch einen mehr oder weniger starken Anstieg von Hilfsangeboten an Schulen. Aber insgesamt ist das leider nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein.
    Ein Beispiel: Das Bundesfamilienministerium hat vor kurzem groß angekündigt, dass es deutschlandweit 100 Stellen so genannter "Mental Health Coaches" an Schulen finanziell unterstützen wird. Ein Anfang, ja. Aber was ist das bei mehr als 30.000 Schulen im Land?

    Heute haben nur etwa 30 Prozent der Schulen in Deutschland ausreichende psychosoziale Hilfsangebote für die Schülerinnen und Schüler.

    Julian Schmitz

    Das Interview führte Marcel Burkhardt.

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