München: Eine Kinderbuchlesung im Wahlkampfstrudel

    Proteste gegen Drag-Lesung:Eine Kinderveranstaltung im Wahlkampfstrudel

    Elisa Miebach
    von Elisa Miebach
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    In München lesen eine Dragqueen und ein Dragking Kinderbücher vor - begleitet von hunderten Demonstranten. Der Höhepunkt einer aufgeladenen Debatte, die schon Wochen zuvor begann.

    Bayern, München: Drag King Eric BigClit (r) und Dragqueen Vicky Voyage, aufgenommen nach der Lesung in der Stadtteilbibliothek.
    Nach der Lesung in der Münchner Stadtteilbibliothek posieren Dragqueen und Dragking für die Kameras.
    Quelle: dpa

    Mehrere Dutzend Polizeiautos stehen vor der Bibliothek im Münchner Stadtteil Bogenhausen. Verschiedene Demonstrationen versuchen sich mit Megafonen zu übertönen. Eine Bühne der AfD ist aufgebaut, eine Demo aus dem Querdenker-Spektrum und eine Kundgebung von Abtreibungsgegnern haben sich daneben versammelt.
    Sieben Personen der Identitären Bewegung gelangen später in die Bibliothek und müssen von der Polizei hinausgebracht werden. Gegen die 200 Demonstrierenden aus dem AfD-nahen Spektrum stellen sich 500 Personen des Bündnisses "München ist bunt", ausgerüstet mit Regenbogen-Fahnen.

    Dragqueen und Dragking lesen aus Kinderbüchern vor

    Der Auslöser: Eine kleine Lesung mit dem Namen: "Wir lesen euch die Welt, wie sie euch gefällt". Eine Dragqueen und ein Dragking lesen aus Kinderbüchern vor. Eine ähnliche Lesung hatte die Stadtteilbibliothek bereits vor einem Jahr organisiert. Damals gab es nach Angaben der Bibliothek nicht einen negativen öffentlichen Kommentar, nicht eine Polizeistreife war nötig.
    In diesem Jahr ist Wahlkampf in Bayern. Die CSU spricht von "Gender-Gaga". Die AfD plädiert seit Wochen für ein Verbot, druckte Plakate mit dem Slogan: "Hände weg von unseren Kindern". Hubert Aiwanger, Chef der Freien Wähler, fordert in der Bild-Zeitung ein Einschreiten des Jugendamtes und spricht von "Kindswohlgefährdung." CSU-Generalsekretär Martin Huber twittert, Kinder sollten nicht "mit woker Frühsexualisierung indoktriniert werden".
    Der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) schrieb dagegen auf Twitter: "Wer Aufklärungsarbeit als schädlich diffamiert, hat nichts verstanden und handelt fahrlässig." Mit Sorge sehen viele die Entwicklungen in den USA und Ungarn. Im US-Staat Tennessee etwa wurden im März öffentliche Dragqueen-Auftritte generell verboten. Der ungarische Präsident Orban hat den Verkauf von Kinderbüchern zum Thema stark eingeschränkt.

    Kindergeschichten ohne Geschlechterschubladen

    In München stellen sich die beiden Lesenden als Prinzessin Vicky und Prinz Eric vor. Ihre vollen Namen Vicky Voyage und Eric BigClit fallen während der Lesung nicht. In den Büchern geht es um Felix, der im Kindergarten gerne seinen roten Faltenrock tragen möchte, und um Nico, der für seine Puppe Mimi mit seinem Werkzeugkasten einen Puppenwagen baut.

    Die Bezeichnung "Drag" ist eng mit der Kunstform "Travestie" verknüpft. Letztere stammt von dem französischen Wort "travesti" ab - was ins Deutsche übersetzt "verkleidet" heißt. Dabei verkleiden sich Männer als Frauen, bewusst überzeichnet mit vermeintlich weiblichen Stereotypen und Geschlechterklischees.

    Woher genau der Begriff "Drag" kommt, ist nicht geklärt. Im Unterschied zur "Travestie" spielt "Drag" jedoch noch stärker mit zugeschriebenen Rollen für Männer und Frauen, will mit vorherrschenden Konzepten von Männlichkeit und Weiblichkeit brechen. "Drag Queens" stellen meist „Frauen“ überzeichnet dar, "Drag Kings" hingegen „Männer“.

    Quelle: Projekt 100% Mensch

    Die Protagonisten der Geschichten bekommen dafür in ihrem Umfeld Gegenwind, aber auch Unterstützung. Dragqueen Vicky trägt ein langes weißes Königinnen-Kleid und dreht sich zu Beginn darin zu einem Lied aus dem Musical Frozen. Dragking Eric trägt einen Fuchsumhang über einem königlichen Rokkokko-Gewand und liest auch aus "Der kleine Prinz" vor.

    CSU spricht von "Frühsexualisierung"

    Es geht außerdem um eine Prinzessin namens Flora, die keine Frösche küssen möchte und am Ende des Buches Prinzessin Mia einen Kuss gibt. Und Dragqueen Vicky liest aus dem US-amerikanischen Bestseller: "Ein Tag im Leben des Marlon Bundo" vor. Das Kaninchen des erzkonservativen US-amerikanischen Ex-Vizepräsidenten Mike Pence, Marlon, möchte ein anders männliches Kanninchen heiraten.
    Lehrer Tilo hat sich zu einer Dragqueen verwandelt, trägt ein auffälliges Make-Up mit langen Wimpern, eine rot-schwarze Perücke und blaues Kleid
    Tagsüber Lehrer an einer Förderschule, abends als Dragqueen auf der Bühne: Für Thilo sind ausgefallene Outfits, Perücken und aufwendiges Make-up eine Leidenschaft. 21.08.2022 | 1:35 min
    Michael Kröger, Referent für Sexualpädagogik der Aktion Jugendschutz in Bayern stellt klar, dass die Veranstaltung nichts mit erwachsener Sexualität oder sexuellen Praktiken zu tun habe. Der CSU-Vorwurf der "Frühsexualisierung" ziele damit ins Leere.

    Kinder fangen bereits sehr früh an, ihre Geschlechterrollen zu entwickeln, und nehmen sehr genau wahr, was von ihnen aufgrund des ihnen zugewiesenen Geschlechtes erwartet wird.

    Michael Kröger, Referent für Sexualpädagogik der Aktion Jugendschutz in Bayern

    Und Kröger ergänzt: "Genau wie kein Problem darin gesehen wird, wenn Kinder traditionelle Geschlechterrollen beobachten und nachspielen, sollte es auch kein Problem sein, wenn diese Geschlechterrollen nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen."

    13-Jährige sagt Lesung nach verbalen Angriffen ab

    Zur Lesung wurde ursprünglich auch die junge Trans-Autorin Julana Gleisenberg erwartet, die aus einem eigenen Buch lesen wollte. Aufgrund zahlreicher verbaler Angriffe gegen die 13-Jährige entschied sich die Familie jedoch, nicht an der Lesung teilzunehmen.
    Arne Ackermann, Direktor der Münchner Stadtbibliothek, wurde vor der Lesung gefragt, ob die Bibliothek kugelsichere Scheiben hat. Aus Sicherheitsgründen musste die Veranstaltung im Obergeschoss stattfinden. Er fragt sich, wie eine Kinderveranstaltung in den Strudel des Wahlkampfs gerät und wer die Verantwortung für den aufgekeimten Hass übernimmt.

    Wir brauchen Vorbilder, die zeigen, es ist okay anders zu sein.

    Arne Ackermann, Direktor der Münchner Stadtbibliothek

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