Bundesverfassungsgericht über Prozesswiederaufnahmen

    Wiederaufnahme Strafprozesse:BVerfG: Neuer Beweis - neues Verfahren?

    von Laura Kress
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    Liegen neue Beweise vor, kann seit einer Neuregelung 2021 ein Strafverfahren wieder aufgenommen werden. Doch die Änderung ist umstritten - das Bundesverfassungsgericht verhandelt.

    Die Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Thomas Offenloch (v.l), Christine Langenfeld, Sibylle Kessal-Wulf, Astrid Wallrabenstein, Doris König (Vorsitzende), Peter Müller, Ulrich Maidowski und Rhona Fetzer, sitzen bei einer mündlichen Verhandlung im Gerichtssaal auf der Richterbank. Das Bundesverfassungsgericht prüft die Neuregelung zu Wiederaufnahme von Strafverfahren.
    Die Gesetzesreform über die Wiederaufnahme von Strafverfahren nach einem Freispruch ist umstritten. Darüber verhandelt heute das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. 24.05.2023 | 1:20 min
    Die 17-jährige Frederike von Möhlmann wird vergewaltigt und erstochen. Dieser Fall, der nun schon mehr als 40 Jahre zurückliegt, war 2021 Anlass für eine Gesetzesänderung, die am heutigen Mittwoch auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beschäftigt.

    Der Fall Möhlmann - Freispruch aus Mangel an Beweisen

    Erstmals zur Verhandlung kam der Fall im Jahr 1982 vor das Landgericht Lüneburg, das den damals 22-jährigen Ismet H. wegen Mordes schuldig sprach. Allerdings ging der Verurteilte in Revision - mit Erfolg.
    Der Bundesgerichtshof verwies das Verfahren an das Landgericht Stade, das den Angeklagten wegen mangelnder Beweise freisprach. Frederikes Vater Hans von Möhlmann ließ die Sache aber nicht auf sich beruhen und schrieb 30 Jahre später einen Brief an den niedersächsischen Innenminister mit der Bitte, sich den Fall erneut anzusehen.

    Neue Beweise gegen Tatverdächtigen dank DNA-Technik

    Die Polizei nahm daraufhin die Ermittlungen wieder auf und kam zu einem überraschenden Ergebnis: Dank verbesserter DNA-Technik konnten die Beamten nachweisen, dass die Spermaspuren auf Frederikes Kleidung von Ismet H. stammten.
    Nachgestellte Szene: Sechs Männer des Spezialeinsatzkommandos der Berliner Polizei in voller Kampfmontur auf dem Weg zu einem Hauseingang.
    Bei manchen Verbrechen stehen die Ermittler zunächst vor dem Nichts. Eine Sternstunde kriminalistischer Arbeit, wenn ihnen dann doch gelingt, den Fall aufzuklären.03.05.2023 | 43:58 min
    Trotz der neuen Beweislage blieb Ismet H. auf freiem Fuß, denn in Deutschland galt der Grundsatz: Niemand darf zweimal für dieselbe Tat vor Gericht stehen.

    Ergänzung der Strafprozessordnung: Neues Verfahren auch bei Mord

    Daraufhin startete von Möhlmann eine Petition für eine Gesetzesänderung, die von knapp 200.000 Menschen unterstützt wurde und schließlich dazu führte, dass der Bundestag einer Änderung der Strafprozessordnung (StPO) zustimmte.
    Ursprünglich konnte ein Verfahren gemäß §362 StPO nur in Fällen von Urkundenfälschung, Meineid, Bestechung oder eines Geständnisses des Freigesprochenen neu aufgenommen werden.
    Seit der Gesetzesänderung ist das auch dann möglich, wenn neue Beweismittel zu einer hohen Verurteilungswahrscheinlichkeit des ursprünglich Freigesprochenen führen. Allerdings nur bei den unverjährbaren Delikten Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen gegen eine Person.
    Silhouette einer Person in einer nächtlichen Stadt, Bild mit grafischen Störimpulsen.
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    Verfassungsrechtliche Bedenken gegen Neufassung von §362 StPO

    Mit dieser neuen Regelung wäre auch eine Verurteilung von Ismet H. wieder möglich. Um das zu verhindern, legte sein Anwalt Johann Schwenn Verfassungsbeschwerde ein.
    Denn was der Bundestag als "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" verabschiedete, finden Schwenn und viele Juristen ganz und gar nicht gerecht. Sie sehen in §362 StPO einen schweren Verstoß gegen verfassungsrechtliche Grundsätze.
    Einer von ihnen: die Rechtssicherheit. Wer einmal freigesprochen wurde, muss sich auf das Urteil verlassen können - ein Grundsatz, der bis ins römische Recht zurückreicht und den man deshalb nicht einfach so über Bord werfen könne.

    Rechtssicherheit: Darf auch ein mutmaßlicher Mörder profitieren?

    Rechtsanwalt Wolfram Schädler, der nach dem Tod von Hans von Möhlmann nun dessen Tochter vertritt, sieht das anders. Er fragt im Gegenzug:

    Warum soll der Staat nicht schlauer werden?

    Wolfram Schädler, Rechtsanwalt der Familie von Möhlmann

    Außerdem werde der Grundsatz nur in wenigen unverjährbaren Fällen wie Mord ausgesetzt.

    Rechtsstaatliches Prinzip wichtiger oder Verurteilung von Straftätern?

    Staatsrechtler Helmut Aust erinnert in einer Sachverständigenanhörung im Bundestag hingegen an die Risiken:

    Es ist damit zu rechnen, dass auch Unschuldige der erneuten und erheblichen Unsicherheit eines Strafverfahrens ausgesetzt werden.

    Helmut Aust, Staatsrechtler

    Insbesondere die Verurteilung von Ismet H. könnte außerdem am Rückwirkungsverbot scheitern, da das Gesetz erst nach der Tat erlassen wurde. Rechtsanwalt Schädler findet, dass das auf den vorliegenden Fall nicht zutrifft:

    Die echte Rückwirkung gilt nur bei materiellen Delikten. Also, wenn jetzt plötzlich etwas als Diebstahl strafbar ist, was vorher nicht so war.

    Wolfram Schädler, Rechtsanwalt

    Bei Normen aus der Strafprozessordnung wie §362 StPO sei eine Rückwirkung hingegen zulässig. Am Ende ist es am BVerfG zu entscheiden, was wichtiger ist: das Vorgehen gegen unerträgliche Ungerechtigkeit oder die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien.

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