Estland: Militär trainiert Jugendliche für den Kriegsfall

    Verteidigung in Europa:Wie Estland für Militär-Nachwuchs sorgt

    Autorenfoto Renée Severin
    von Renée Severin, Tallinn
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    In Estland kommen Kinder und Jugendliche schon früh mit dem Verteidigungsministerium in Kontakt. Das Land wirbt offensiv für das Militär. Auch wegen Nachbar Russland.

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    In einem Waldgebiet nahe Tallinn sind Schüsse zu hören. Kinder und Jugendliche, teils in olivgrünen Uniformen, kriechen derweil durch Sand, unter Seilen hindurch. Das estnische Militär trainiert in der Gegend den Ernstfall, hier im Waldabschnitt übt der Nachwuchs. In Estland lernen schon die Jüngsten das Militär kennen. Auch, weil im Osten die Grenze zu einem unliebsamen Nachbarn verläuft: Russland.

    Estland: Überlebenstraining für die Jugend

    Russland ist von hier mehr als zwei Autostunden entfernt. Die Kinder und Jugendlichen nehmen an einem Überlebenscamp teil, zelten auf dem Militärgelände. Die Jungen und Mädchen lernen, wie man allein im Wald zurechtkommt, bekommen die nötigen Tools beigebracht, etwa wie man eine Karte liest - unbeeindruckt von den Schüssen der Militärübung, die ununterbrochen zu hören sind. Lisette ist eine der Älteren - 18 Jahre alt, blondes Haar, olivgrüne Uniform. Sie zeigt den Jüngeren, wie sie Hindernisse ohne Hilfsmittel überwinden.

    Wir üben auch manchmal schießen. Wir haben bewaffnete Trainingsgruppen. Aber wir machen es nicht wie beim Militär. Wir sind einfach Kinder, die unterschiedliche Dinge probieren.

    Lisette Tafenau

    Verteidigung in Estland: Jede Unterstützung zählt

    Hinter dem Camp stecken die Jugendorganisationen des estnischen Freiwilligenverbands, dem Kaitseliit. Während Erwachsene sich dort militärisch ausbilden lassen, um das Militär im Ernstfall zu unterstützen, lernen die Kids in den Jugendorganisationen die Grundlagen. Die Mädchen heißen "Heimattöchter", Kodutütred auf Estnisch. Die Jungs: "Junge Adler", Noored Kotkad.
    Ein Mädchen in Militärskleidung steht auf dem Übungsgelände
    Lisette ist seit sechs Jahren eine Heimattochter.
    Quelle: ZDF

    Dass sie früh mit dem Militär in Kontakt kommen und im Idealfall ein Interesse daran entwickeln, spielt eine wichtige Rolle in der Verteidigungsstrategie Estlands. "Wir sind ein Land mit 1,36 Millionen Einwohnern. Wir haben nicht den Luxus, dass die Leute sich nicht in der Verteidigung engagieren oder keine Rolle darin spielen", sagt H. Martin Reisner vom Verteidigungsministerium, dem der Kaitseliit unterstellt ist. Kinder und Jugendliche sollen demnach schon früh verstehen, Teil des großen Ganzen zu sein.

    Bedrohung durch Russland: Verteidigungsetat aufgestockt

    In Estland machen sie keinen Hehl aus der Sache: Russland, der direkte Nachbar, ist eine Bedrohung. Rund zwei Drittel der Esten sorgen sich, Russland könne versuchen, seine Macht in den Nachbarstaaten wiederherzustellen. Das zeigt eine offizielle Umfrage des Verteidigungsministeriums. Die ehemalige Sowjetrepublik ist seit 2004 Teil der EU und der Nato. Das baltische Land hat Ende 2023 Verteidigungsausgaben in Rekordhöhe verabschiedet.

    "Wir erhöhen gerade unsere Bereitschaft. Und das ist es, was alle tun müssen. Nicht nur hier in Estland, sondern alle anderen auch", so der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur im Februar 2024. Der Militäretat des Landes überschreitet in diesem Jahr das Zwei-Prozent-Ziel der Nato, liegt bei 3,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das Land im Baltikum rüstet auf.

    H. Martin Reisner vom Verteidigungsministerium erklärt: "Es ist offensichtlich, dass wir mehr tun müssen." Deshalb investiere man nicht nur in die eigene Verteidigung, sondern auch in die der Ukraine. "Denn unser grundlegendes Verständnis ist, was auch immer in der Ukraine passiert, ist verbunden mit der europäischen Sicherheit und der der Nato."

    Infografik: Der neue Eiserne Vorhang
    Infografik: Der neue Eiserne Vorhang

    Krieg in der Ukraine sorgt für Freiwilligen-Zuwachs

    Und auch die Verteidigungsbereitschaft in der Bevölkerung habe zugenommen, das beobachtet man auch im zuständigen Ministerium, so H. Martin Reisner. Seit dem Krieg in der Ukraine habe der Freiwilligenverband vermehrt Zulauf erhalten. Reisner: "Das sind 5.000 Menschen, die freiwillig gesagt haben: Wenn es zu einem Krieg in Estland kommt, möchte ich eine aktive Rolle darin haben und Estland verteidigen." Beim Freiwilligenverband können sich außerhalb der Jugendorganisation alle Esten über 18 Jahre melden.
    Beim Überlebenscamp nahe Tallinn spielt der Krieg eher eine untergeordnete Rolle. Gefragt, ob sie oft über das Thema reden, antwortet Lisette: "Nur, wenn es Neuigkeiten gibt." Vieles hier erinnert eher an Pfadfinder als ans Militär - wenn man die Schüsse nebenan und die Tarnfleck-Uniformen der Trainer ausblenden kann. Lisette gefallen vor allem die sportlichen Übungen, die Hindernisbahn zum Beispiel.
    großes Auslandsjournal a im Vordergrund, daneben Frau steht mit Handy neben der Ladefläche von einem LKW
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    Wehrdienst für Männer verpflichtend

    Es gehe nicht nur um den militärischen Aspekt, erzählt Arthur Sepp, freiwilliger Helfer beim Camp. Erste Hilfe, einen Unterschlupf bauen, im Wald zurechtzukommen. "Wenn etwas passiert, dann haben sie das Wissen, um zu überleben." Das betont auch H. Martin Reisner vom Verteidigungsministerium. Und sagt vorher:

    In Estland ist jeder estnische Mann verpflichtet, einen Militärdienst zu leisten. Die Jugendorganisationen sind ein Schritt dorthin. Sie bereiten etwas vor.

    H. Martin Reisner, Verteidigungsministerium Estland

    Jugendorganisationen schaffen militärische Grundlagen

    Auch die Mädchen lernen die Grundlagen, können freiwillig einen Wehrdienst absolvieren. Insgesamt sind etwa 8.000 Kinder und Jugendliche Mitglieder in den Jugendorganisationen. Wer dort mitmacht, geht später eher auch beruflich zum Militär. Das würden Studien zeigen, so Reisner. Ihre Leistungen sind dann besser. Insgesamt engagieren sich fast 30.000 Esten im Freiwilligenverbund. Hinzu kommt: 64 Prozent der Esten wären bereit, ihr Land im Ernstfall zu verteidigen, zeigen offizielle Zahlen aus 2023.
    Lisette ist in diesem Jahr mit der Schule fertig. Was die dann machen will, weiß sie schon: Wehrdienst. Freiwillig. Als junge Frau müsste sie eigentlich nicht. "Ich finde, Krieg ist nichts Gutes. Das ist nicht, was ich will. Aber es ist das Mindeste, was ich für mein Land tun kann."

    In der EU leben etwa 73 Millionen junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren. Das zeigen offizielle Zahlen der Europäischen Union aus 2021. Darunter solche, die ihre Zukunft auf politischer, sozialer und gesellschaftlicher Ebene mitgestalten. Renée Severin und Alicia Berthel haben fünf junge Europäerinnen und Europäer getroffen und mit ihnen über ihre Sorgen, Wünsche und Motivationen gesprochen.

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