20 Jahre Polen in der EU: Mein Pass in den Westen

    20 Jahre Polen in der EU:EU-Osterweiterung: Mein Pass in den Westen

    Milena Drzewiecka
    von Milena Drzewiecka, Warschau
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    Über die EU-Osterweiterung reden viele Politiker und Experten. Doch was hieß es für diejenigen, die damals im Osten aufgewachsen sind? Ein Erfahrungsbericht aus Polen.

    Soldaten auf Pferden zu Fuß. Politiker im Vordergrund mit großem auslandsjournal Logo
    Europa war für Ungarn, Slowenen, Tschechen und Slowaken das Versprechen von Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Was ist daraus geworden, was hat sich in 20 Jahren EU verändert?25.04.2024 | 44:15 min
    Auf diesen Tag vor 20 Jahren habe ich sehr lange gewartet: 2004 machte ich das Abitur, ging an die Uni, habe meine kleine Heimatstadt für die Hauptstadt verlassen. Eine Lebensrevolution, die sich international entwickeln konnte, weil Polen, mein Land, mit neun anderen Ländern, am 1. Mai 2004 der EU beigetreten ist.

    Der Westen: Teddybären und Milchschokolade

    Als ich sehr klein war, hatte der Westen die braunen Augen eines riesengroßen Teddybären, den mein Vater nach seiner Gastarbeit im Ausland für mich mitgebracht hat.

    Der Westen roch nach bunten Haribos und schmeckte nach Milchschokolade mit den Alpen auf der Verpackung. Ich wollte diesen mysteriösen Westen kennenlernen.

    großes Auslandsjournal a im Vordergrund, daneben Frau steht mit Handy neben der Ladefläche von einem LKW
    Estland, Lettland, Litauen und Polen grenzen an Russland. Europa war für sie das Versprechen von Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Nach 20 Jahren in der EU ist die Angst zurück.02.05.2024 | 44:30 min
    Die erste Chance kam mit der Reise nach Berlin. Mitte der neunziger Jahre, noch lange bevor Polen der EU beigetreten ist. An der Grenze mussten wir uns in Geduld üben: "Mutti, warum steht unser Bus in so einer langen Schlange und die anderen gehen so schnell durch?", fragte ich.

    Wir sind aus Polen. Wir warten auf die Kontrolle.

    Milena Drzewieckas Mutter

    Ich kann mich an ihre genauen Worte über den Schengen-Raum und die EU nicht erinnern, aber mit den Jahren und mit den weiteren Reisen sah ich sehr genau, wie viel der Pass mit den EU-Sternchen wert ist. Und ich habe mich entschieden, den Westen nicht nur als Tourist zu besuchen, sondern dort zu studieren.
    Die EU hat aktuell 27 Mitglieder und 9 Beitrittskandidaten.
    Die EU hat aktuell 27 Mitglieder und 9 Beitrittskandidaten.

    EU-Referendum verspricht Zukunft im Westen

    Heute klingt es simpel: Uni finden, Bewerbung abschicken, alles online, alles erreichbar. Aber damals? Es gab keine Apps, keine Smartphones, kein stabiles Internet. Man musste sich ausgedruckte Uni-Broschüren selbst holen. Aber vom Ausland? In meiner Heimatstadt Ciechanow war weder eine ausländische Stiftung, noch eine Botschaft zu finden. Niemand aus der Gegend studierte im Ausland.
    2003 sagten 77,45 Prozent der Polen, die am Referendum teilnahmen, laut "Ja!" zur EU. Ich war dabei. Ich konnte zum ersten Mal wählen und bin fast gerannt, um für mein Studium im Ausland und eine bessere Zukunft abstimmen zu können. Groß genug, um zu verstehen, was für eine Geschichte hinter den Sternen auf dem EU-Pass steht. Und jung genug, um meine Zukunft im Westen zu planen.
    Die EU-Beitrittskandidaten
    Die EU zählt 27 Mitgliedsländer, 10 weitere wollen beitreten. Auch die Ukraine erhielt im Sommer 2022 den Kandidatenstatus.30.04.2024 | 3:28 min
    Mein erstes Stipendium war allerdings nicht in der EU, sondern in der Schweiz, aber in Kooperation mit dem Erasmus Programm. Als ich meinen Aufenthalt anmelden musste, bekam ich in einem Amt in Bern den gleichen Ausweis, wie Studenten aus Deutschland oder Italien.

    In diesem Moment, zum ersten Mal im Leben, fühlte ich mich wie aus dem Westen. Später habe ich ein Erasmus-Semester in England gemacht. Noch ein Stückchen weiter in den Westen.

    Polen - nur billige Arbeitskraft?

    Die erste damalige Assoziation mit Polen? Billige Arbeitskraft. Dass Malta und Zypern im gleichen Jahr der EU beigetreten sind, spielte kaum eine Rolle. Das ist Süden, dort war man mal im Urlaub. Und Polen? Natürlich kennt man die Geschichte, aber wer hat Polen vor dem Jahr 2004 besucht?
    großes Auslandsjournal a im Vordergrund, daneben Frau steht mit Handy neben der Ladefläche von einem LKW
    Estland, Lettland, Litauen und Polen grenzen an Russland. Europa war für sie das Versprechen von Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Nach 20 Jahren in der EU ist die Angst zurück.02.05.2024 | 44:30 min
    "Warum sprichst du so unverschämt gut Deutsch?", fragte mich ein Kollege in der Parlamentsredaktion eines privaten Fernsehsenders, als ich dort 2013 als Teil eines Stipendiums in Berlin arbeitete. Die Frage an sich ist unverschämt, zum Glück konnten wir darüber beide lachen. Fast 20 Jahre nach meiner ersten Reise nach Berlin konnte ich in dieser Stadt Schulter an Schulter mit den deutschen Kollegen arbeiten. 2014 nahm Donald Tusk als erster Osteuropäer die Stelle des EU-Ratspräsidenten an. Im gleichen Jahr begann ich für das ZDF zu arbeiten.

    EU-Pass: Ticket zur Freiheit und Toleranz

    Ich habe zwar die langen Schlangen an der Grenze erlebt, aber die meiste Zeit meines Lebens benutze ich den EU-Pass. Den Pass zur Freiheit und Toleranz, Sicherheit und Zusammenarbeit.
    EU: Chance oder Herausforderung
    Der EU-Beitritt brachte den Neulingen viele Chancen - aber verlangte ihnen auch große Anstrengungen und Opfer ab. Zum Beispiel in der Milch- und Käsebranche.30.04.2024 | 2:09 min
    Heute, fast 30 Jahre nach der ersten Reise in den Westen, sitze ich nicht nur in dem westlichen Fernsehstudio des ZDF und erzähle meine Story. Heute kann ich in Polen alle Sorten Haribos und Milchschokoladen kaufen, die ich will. Kann ohne Pass über die Grenze fahren. Heute kann ich selbst die Erasmus-Studierenden in Polen unterrichten. Heute bin ich im Westen. Heute gehört Polen zum Westen.
    Milena Drzewiecka arbeitet im ZDF-Studio in Warschau

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