Debatte in Großbritannien:Für einen Job abnehmen? Experten kritisch
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Um Wirtschaft und Gesundheitssystem zu entlasten, schlägt der britische Gesundheitsminister vor, Arbeitslosen Abnehmmittel zu spritzen. Wissenschaftler finden das bedenklich.
Abnehmen für den Job? Großbritanniens Regierung plant, Arbeitslosen Abnehmspritzen zu verordnen. Kritische Stimmen aus der Wissenschaft warnen.
Quelle: dpa
Abnehmen, um schnell wieder arbeiten zu können und möglichst wenig Arztkosten zu verursachen: Das könnte durch den Einsatz neuer Medikamente wie Ozempic oder Zepbound zur Gewichtsreduzierung bei arbeitslosen Menschen gelingen - so zumindest die Überlegung von Großbritanniens Gesundheitsminister Wes Streeting: "Unsere immer breiter werdenden Hüften stellen eine erhebliche Belastung für unser Gesundheitswesen dar", verkündete er in der britischen Tageszeitung Telegraph.
Premierminister Keir Starmer unterstützt Vorschlag
Adipöse Menschen würden mit elf Milliarden Pfund pro Jahr mehr Kosten für das staatliche Gesundheitssystem verursachen als Raucher. Sie seien im Schnitt vier Tage pro Jahr häufiger krank, einige müssten ihre Arbeit sogar komplett aufgeben, so Streeting. Und auch Premierminister Keir Starmer pflichtete seinem Gesundheitsminister gegenüber dem britischen Sender BBC bei. Abnehmspritzen seien "sehr wichtig für die Wirtschaft, damit die Menschen wieder in Arbeit kommen." Wissenschaftler sehen das allerdings differenzierter.
Übergewicht: Mehr als falsche Ernährung und Bewegungsmangel
Adipositas ist ein deutlicher Überschuss an Fettgewebe im Körper gegenüber dem, was je nach Alter, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit als normal gilt, erklärt Francesco Rubino. Er ist Professor am King’s College London und einer der weltweit führenden Wissenschaftler beim Thema Gewichtsverlust.
Das Problem ist, dass wir nicht festgelegt haben, wann starkes Übergewicht ein Risikofaktor für weitere Erkrankungen ist, wann es Folge anderer Erkrankungen und wann es eine eigene Krankheit für sich ist, also den Organen direkt schadet.
Francesco Rubino, Professor für metabolische und bariatrische Chirurgie
Vielfach belegt sei jedenfalls, dass die Ursachen ganz verschieden und in den meisten Fällen zumindest teilweise genetisch bedingt seien. So vielschichtig wie das Problem, müssten entsprechend auch die Lösungsansätze sein, denn wo ein Medikament für die einen funktioniere, könne es für andere ein völlig falsches Mittel sein, so Rubino.
BMI nicht per se ein Indikator für Gesundheit
Er meint: Vor allem die Diagnostik müsse besser und genauer werden und dürfe sich nicht nur daran orientieren, ob jemand formal über oder unter einer gewissen Gewichtsgrenze liege. Der sogenannte BMI (Body-Mass-Index), der das Verhältnis von Körpergewicht und Körpergröße angibt, könne eben noch nicht per se Aufschluss darüber geben, ob jemand krank oder gesund sei, so Rubino.
Kritik: Gesundheit statt Arbeitskraft fokussieren
Auch Dolly van Tulleken, die an der Cambridge Universität zu bevölkerungsbezogenen Gesundheitsmaßnahmen forscht, ist von Streetings Vorschlag nicht überzeugt. Die Regierung sei gar nicht in der Lage, alle in Frage kommenden Menschen mit den Medikamenten zu versorgen. Aktuell würden etwa 49.000 Menschen jährlich im Zusammenhang mit ihrem Gewicht behandelt. Dem Vorstoß des Gesundheitsministers zufolge würde diese Zahl auf mehrere Millionen steigen. Außerdem hat van Tulleken ethische Bedenken:
Es ist unglaublich wichtig, dass die Menschen in Großbritannien die Gesundheitsversorgung auf der Grundlage ihrer gesundheitlichen Bedürfnisse und nicht ihres potenziellen wirtschaftlichen Wertes in Anspruch nehmen können.
Dolly van Tulleken, Epidemiologin
Zusammenhang zwischen Jobverlust und Gewichtszunahme
Allgemein anerkannt ist, dass Menschen mit Adipositas starker Diskriminierung ausgesetzt sind - in öffentlichen Räumen, aber auch im medizinischen Bereich. Francesco Rubino beschreibt diese Stigmatisierung im Vergleich zu den Risiken des Übergewichts als das "mindestens genauso große, wenn nicht das größere Problem".
Eine Studie zeigt, dass ein Jobverlust bei britischen Erwachsenen tatsächlich tendenziell zu einer stärkeren Gewichtszunahme führt, nicht aber aufgrund von Veränderungen der Ernährung oder weniger körperlicher Betätigung - sondern wegen mehr Sorgen, Stress und weniger Schlaf.
Menschen politisch den Zugang zu einer für sie passenden Behandlung ermöglichen zu wollen, sei durchaus richtig, betont Francesco Rubino Aber: "Zu behaupten, dass Adipositas eigentlich eine Lebensstilfrage und individuelle Entscheidung ist, ist geradezu böse. Das Bild von Leuten, die zu viel essen und sich zu wenig bewegen, ist vereinfacht und entspricht nicht der Realität."
Wirkung der Abnehmspritzen auf Arbeitslosigkeit
Ob der Einsatz von Abnehmspritzen bei mehrgewichtigen, arbeitslosen Menschen in Großbritannien tatsächlich einen Einfluss auf Arbeitslosigkeit und die Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung hat und in Zukunft breiter zum Einsatz kommen könnte, soll nun eine neue, fünfjährige Studie im Großraum Manchester klären.
Geldgeber der Studie: Unter anderem Lilly, der weltweit größte Pharmakonzern, der auf dem von Premier Starmer veranstalteten internationalen Investitionsgipfel diese Woche erklärt hatte, 279 Millionen Pfund in die britische Biowissenschaft zu investieren.
Quelle: dpa
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