Haiti: "Ärzte ohne Grenzen" stellen Arbeit wegen Gewalt ein
Interview
Tote, Gewalt, Chaos:Haiti: Zu brutal für "Ärzte ohne Grenzen"
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Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" stellt in Port-au-Prince die Arbeit vorübergehend ein - erstmals wegen Drohungen durch die Polizei und die Gewalt in Haiti.
In Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis, lieferten sich Banden erneut Gefechte mit Sicherheitskräften und setzten Häuser in Brand. Zuletzt wurde ein landendes Flugzeug beschossen.12.11.2024 | 0:20 min
Die Gewalt rund um kriminelle Gangs im Karibikstaat Haiti erreicht nach Angaben der Vereinten Nationen immer neue Ausmaße. Allein in der vergangenen Woche wurden mindestens 150 Menschen getötet, weitere 92 verletzt. Die Vereinten Nationen schätzen, dass allein zwischen dem 13. und 16. November 2024 rund 20.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben wurden.
Für die wenigen Hilfsorganisationen, die noch vor Ort sind, wird es immer schwieriger, dringend benötigte Hilfe zu leisten. Jetzt hat auch die Organisation "Ärzte ohne Grenzen", die seit 30 Jahren in Haiti tätig ist, die Arbeit vorübergehend eingestellt.
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Wie es zu dieser Entscheidung kam und was sie für die Menschen vor Ort bedeutet, erklärt Diana Manilla Arroyo, Landeskoordinatorin von "Ärzte ohne Grenzen" in Haiti.
ZDFheute: Warum hat "Ärzte ohne Grenzen" die Entscheidung getroffen, die Aktivitäten im Großraum Port-au-Prince einzustellen?
Diana Manilla Arroyo: Am 11. September wurde ein Krankenwagen von "Ärzte ohne Grenzen", in dem sich drei Patienten befanden, von der haitianischen Polizei gestoppt. Sie versuchten zunächst unsere Mitarbeiter festzunehmen und schossen in die Luft. Daraufhin wurde der Krankenwagen von der Polizei und bewaffneten Bürgern festgesetzt, die Reifen wurden zerstochen und das Ärzte-ohne-Grenzen-Personal mit Tränengas zum Aussteigen gezwungen.
Danach kam es innerhalb einer Woche zu weiteren vier Vorfällen, bei denen Polizisten unsere Fahrzeuge anhielten und unsere Mitarbeiter zum Teil mit Tod oder Vergewaltigung bedrohten. Unser Personal hat große Angst und wir hatten keine andere Wahl, als unsere Aktivitäten vorübergehend einzustellen, bis wir Sicherheitsgarantien bekommen können.
Immer wieder gibt es Berichte über Bürger, die sich der Polizei anschließen und verdächtige Bandenmitglieder in Selbstjustiz lynchen und anzünden. Vor kurzem hatte der Polizeisprecher von Port-au-Prince erklärt, Polizisten und Einwohner hätten in einer einzigen Nacht mindestens 28 Mitglieder krimineller Banden getötet.
Die allgemeine Unsicherheit hat das Leben in der Hauptstadt zum großen Teil lahmgelegt. Der Menschenrechtskommissar der Vereinten Nationen, Volker Türk, sprach in New York davon, dass vier Millionen Menschen in Port au Prince "faktisch als Geiseln" gehalten werden.
ZDFheute: "Ärzte ohne Grenzen" ist auf der ganzen Welt in Krisensituationen tätig. Hier handelt es sich um eine direkte Bedrohung des Personals. Was steckt dahinter?
Arroyo: In allen vier Vorfällen der vergangenen Woche hat die Polizei unsere Mitarbeiter beschuldigt, Gangmitgliedern zu helfen und die Arbeit der Polizei zu verhindern. Es ist hier wichtig zu betonen, dass "Ärzte ohne Grenzen" medizinische Hilfe einzig auf Grundlage der medizinischen Notwendigkeit leistet. Ein Patient ist für uns nur das: ein Patient.
Sie alle können bei uns Hilfe bekommen. Das ist auch die Basis unserer Sicherheit: die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung und der Respekt aller Parteien, einschließlich der Polizei. Es ist das erste Mal, dass "Ärzte ohne Grenzen" von der Polizei bedroht wird. Das ist bisher nie vorgekommen.
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ZDFheute: Was sind die Konsequenzen ihrer Entscheidung für die haitianische Bevölkerung?
Arroyo: "Ärzte ohne Grenzen" hilft an Orten, wo das öffentliche Gesundheitssystem nicht existiert - entweder, weil öffentliche Angestellte dort nicht hin können oder ihnen das Risiko einfach zu hoch ist. Dort sind dann wir.
Wir fühlen uns der Bevölkerung verpflichtet und verschwinden auch nicht. Aber um weitermachen zu können, brauchen wir Sicherheitsgarantien und glaubhaften Respekt für unser medizinisches und humanitäres Mandat von allen Sicherheitskräften.
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ZDFheute: Wie realistisch ist das?
Arroyo: Der neue Premierminister und sein Kabinett sind erst seit sehr kurzer Zeit im Amt und wir verstehen, dass das zu Hindernissen führt. Aber es ist ja nicht das erste Mal, dass sich Haiti in einer Krise befindet. Es ist auch nicht das erste Mal, dass wir hier in sehr unsicheren Bedingungen arbeiten. Aber es ist das erste Mal, dass wir zur Zielscheibe der Polizei wurden.
Deshalb erwarten wir zumindest, dass die Regierung die Bedeutung unserer Arbeit und unseres 30-jährigen Engagements hier im Land anerkennt und die notwendigen Schritte unternimmt, um unsere Sicherheit zu garantieren.
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ZDFheute: Wie wirkt sich die jetzige Situation auf ihre Mitarbeiter aus?
Arroyo: Wir sind alles sehr stolz darauf, für diese Organisation zu arbeiten. Wir wissen, wir leisten Hilfe, wo es sonst niemand tut. Und die Tatsache, dass wir das jetzt nicht mehr tun können, ist sehr schwierig.
Aber wir müssen jetzt konsequent sein und diese schwierige Entscheidung treffen, um den notwendigen Respekt und die notwendige Sicherheit zu bekommen für unsere Fahrzeuge, unsere Mitarbeiter, unsere Einrichtungen und unsere Patienten.
Das Interview führte Steffanie Riess aus dem ZDF-Auslandesstudio Washington.
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