Urteil aus Straßburg: Klimaschutz ist Menschenrecht

    Urteil aus Straßburg:Klimaschutz ist Menschenrecht

    von Jan Henrich und Sebastian Langer
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    Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat entschieden, dass es ein Menschenrecht auf effektiven Klimaschutz gibt. Eine Klimaklage von Seniorinnen aus der Schweiz hatte Erfolg.

    FRANKREICH SCHWEIZ KLIMASENIORINNEN KLIMAKLAGE STRASSBURG
    Wegweisendes Urteil: Der Europäische Menschengerichtshof hat einer Klimaklage Schweizer Seniorinnen stattgegeben. Der unzureichende Klimaschutz der Schweiz verletze ihre Rechte.09.04.2024 | 1:35 min
    Bedeutet ein mangelnder Klimaschutz auch gleichzeitig eine Verletzung von Menschenrechten? Diese Frage hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) jetzt bejaht - und damit Neuland betreten. Das Urteil stellt eine Grundsatzentscheidung mit weitreichender Signalwirkung dar.
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    Das Europäische Menschenrechtsgericht hat in einem wegweisenden Urteil die Schweiz wegen mangelnden Klimaschutzes verurteilt. "Der Gerichtshof hat einen neuen Präzedenzfall geschaffen", so ZDF-Reporter Jan Henrich.09.04.2024 | 1:06 min

    EGMR verurteilt die Schweiz zu mehr Klimaschutz

    Gleich drei Klimaklagen standen beim EGMR an diesem Dienstag zur Entscheidung an. Erfolgreich war die Klage des Vereins "KlimaSeniorinnen" gegen die Schweiz.
    Konkret haben die Richter am EGMR entschieden, dass der unzureichende Klimaschutz der Schweiz die Menschenrechte der klagenden Seniorinnen verletzt. Dabei entnahm der Gerichtshof dem Recht auf Privat- und Familienleben (Art. 8 der Menschenrechtskonvention) ein Recht auf wirksamen Schutz vor den nachteiligen Folgen des Klimawandels auf Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität.

    Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

    Menschenrechtskonvention, Artikel 8 (1)

    Dieser Verpflichtung sei die Schweiz nicht gerecht geworden. Diese habe es versäumt, ein CO2-Budget aufzustellen oder anderweitig zu berechnen, wie stark sie ihre Emissionen zu reduzieren habe. Das Urteil bindet zunächst zwar nur die Schweiz, allerdings dürfte es für alle zukünftigen Klimaklagen einen Präzedenzfall geschaffen haben.

    Nur indirekte Auswirkungen auf Deutschland

    Auf Deutschland hat das Urteil des EGMR zunächst nur indirekte Auswirkungen. Laut der Umweltrechtlerin und Rechtsanwältin Roda Verheyen werde aber auch der deutsche Gesetzgeber überprüfen müssen, inwieweit das derzeitige Klimaschutzgesetz den vom EGMR aufgestellten Grundsätzen entspricht.

    Aus meiner Sicht hat der EGMR heute die Position derer, die sagen, Klimaschutz muss Realität werden und nicht nur auf dem Papier stehen, gestärkt.

    Klima-Anwältin Roda Verheyen

    Entscheidend sei für sie, dass der EGMR auch die Umsetzung des Klimaschutzes durch die Staaten als Teil des Menschenrechts angesehen habe.

    Seniorinnen fordern Überprüfung der Klimapolitik

    Die Schweizerinnen hatten argumentiert, dass die Schweiz nicht genug unternehme, um klimaschädliche Emissionen einzudämmen. Hiervon seien sie unmittelbar betroffen. Denn häufigere Hitzewellen würden sich insbesondere negativ auf die Gesundheit von älteren Frauen auswirken. Vor Schweizer Gerichten hatte die Gruppe zuvor mit ihrer Klage keinen Erfolg.
    09.04.2024, Frankreich, Straßburg: Menschen demonstrieren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
    Erstmals hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Land wegen unzureichenden Klimaschutzes verurteilt. Die Schweiz verletze demnach die Menschenrechte ihrer Bürger.09.04.2024 | 0:20 min

    Portugiesische Jugendliche klagen gegen 32 Staaten

    Auch sechs portugiesische Jugendliche im Alter zwischen elf und 24 Jahren waren mit ihrem Anliegen nach Straßburg gezogen. Ihre Klage richtete sich gleichzeitig gegen alle EU-Mitgliedsstaaten sowie gegen Norwegen, Russland, die Schweiz, die Türkei und das Vereinigte Königreich. Ein Auslöser für ihre Klage seien die schweren Waldbrände in Portugal 2017 gewesen.

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit seinen 46 Mitgliedstaaten urteilt über Beschwerden, die sich auf Verletzungen der in der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkannten Rechte beziehen. Die Entscheidungen sind offiziell bindend, auch wenn die Durchsetzung der Urteile in den jeweiligen Ländern unterschiedlich gehandhabt wird. Im Normalfall stellt der Gerichtshof in seinen Urteilen fest, ob eine Menschenrechtsverletzung vorliegt und gibt den Staaten auf, diese zu beheben. Zusätzlich kann den betroffenen Personen auch ein Schadensersatz zugesprochen werden.

    Sie argumentierten, der Klimawandel habe bereits heute schädliche Auswirkungen auf ihre körperliche und geistige Gesundheit. Dadurch seien sie in ihren Menschenrechten verletzt. Ihre Klage wurde allerdings abgewiesen, da sie nicht, wie grundsätzlich vorausgesetzt, zuvor die nationalen Gerichte angerufen hatten. Trotz ihrer Niederlage freuten sie sich mit den Schweizer Seniorinnen:

    Ihr Sieg ist auch ein Sieg für uns und ein Sieg für alle!

    Sofia Oliveira (19), portugiesische Klägerin

    27.09.2023, Frankreich, Straßburg: Mariana (l) und Claudia Agostinho aus Portugal kommen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an, wo sie 32 europäische Regierungen beschuldigen, ihre Menschenrechte zu verletzen, weil sie ihrer Meinung nach nicht angemessen gegen den Klimawandel vorgehen.
    Nachdem schwere Waldbrände ihre Heimat Portugal verwüsteten, verklagen nun sechs Kinder und Jugendliche 32 Staaten. Sie bemängeln, dass diese mehr für den Klimaschutz tun müssten.27.09.2023 | 1:27 min
    Beide Gruppen wurden bei den Verfahren von namhaften Organisationen unterstützt, unter anderem Greenpeace und dem Global Legal Action Network.
    Die dritte Klimaklage eines ehemaligen Bürgermeisters eines französischen Küstenortes wies das Gericht in Straßburg am Dienstag als unzulässig zurück.

    Klimaklagen häufen sich

    Gerichtsverfahren zur Klimapolitik hatten sich in den vergangenen Jahren gehäuft. Den Stein ins Rollen brachte ein Urteil des Bezirksgerichts in Den Haag im Juni 2015, mit dem die niederländische Regierung zur Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen verpflichtet wurde. Im Mai 2021 verurteilte ein niederländisches Gericht Europas größten Ölkonzern, Shell, seine Treibhausgasemissionen erheblich zu senken. Ähnliche Urteile gibt es mittlerweile auch in Belgien.
    Justitia auf dem Gerechtigkeitsbrunnen in Frankfurt am Main
    Klimaschutz ist Menschenrecht. Weltweit lassen Urteile auch von höchsten Gerichten aufhorchen. Die Spielräume, nichts gegen die Erderwärmung zu tun, schrumpfen rapide.29.08.2021 | 28:28 min
    In Deutschland sorgte das Bundesverfassungsgericht im April 2021 mit seinem Klimabeschluss für Aufsehen. Das damalige Klimaschutzgesetz des Bundes wurde teilweise für verfassungswidrig erklärt, weil dieses klimapolitische Lasten zu stark auf künftige Generationen abwälze.
    Jan Henrich und Sebastian Langer sind Redakteure in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.

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