Ruanda: 30 Jahre nach dem Völkermord an den Tutsi

    Ruanda 30 Jahre nach dem Genozid:Als es mehr als 800.000 Tote in 100 Tagen gab

    Susann von Lojewski
    von Susann von Lojewski
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    Ruanda gedenkt in diesen Tagen des Massakers an der Volksgruppe der Tutsi. Die Nation scheint versöhnt, doch ist das Grauen wirklich aufgearbeitet? Viele leiden bis heute.

    Rwanda marks the 30th anniversary of the 1994 Genocide, in Kigali
    Ruanda hat zu Beginn einer Woche der Trauer des Völkermords vor 30 Jahren gedacht. Am 7. April 1994 begann das Massenmorden durch von der damaligen Regierung angestachelte Milizen der Hutu-Volksgruppe - mindestens 800.000 Menschen getötet.08.04.2024 | 4:35 min
    Chantale Uwanyirigira ist Augenzeugin und Überlebende des Genozids in Ruanda. Ihr Baby wurde erschlagen, zerhackt mit einer Machete, während sie es auf dem Arm hielt. Es war nur vier Monate alt. Das alles ist 30 Jahre her. Die 57-Jährige ist eine der wenigen Menschen, die bereit sind, mit uns zu sprechen.
    Ruanda gedenkt Opfern des Genozids von 1994
    Beginn der Trauerfeierlichkeiten in Ruanda: Vor 30 Jahren töteten Milizen der Hutu-Volksgruppe mindestens 800.000 Menschen. Die internationale Gemeinschaft griff nicht ein.07.04.2024 | 2:44 min

    Was geschah beim Völkermord in Ruanda?

    Chantale - eine Tutsi - war mit ihren Zwillingen in ihre Kirche geflohen. Hier unter dem Schutz Gottes, so dachte sie, sei sie sicher. Doch sie täuschte sich: Mehr als 800.000 Menschen, überwiegend von der Volksgruppe der Tutsi, wurden im Völkermord von Ruanda getötet. Ein Gemetzel, das nur 100 Tage dauerte. Auch Chantales Sohn wurde ermordet. "Einige der Täter habe ich gekannt, andere kamen aus einer anderen Region", erzählt sie.

    Ich habe geglaubt, dass so etwas unmöglich ist. Jemanden festzuhalten und so lange auf ihn einzuhacken, bis er tot ist.

    Chantale Uwanyirigira, Genozid-Überlebende

    Während sie ihre Geschichte erzählt, ist ihr Gesicht nahezu unbewegt. Wie abgespalten ist das Unfassbare, das sie erlebt hat. Sie zeigt ihre Narben: an den Füßen, am Brustkorb, im Gesicht. Um ihren Kopf muss sie immer ein Tuch tragen. Niemand soll die Wunden sehen, die ihr ständig Kopfschmerzen bereiten.

    Du musst dafür beten, über so etwas hinwegzukommen. Und du musst vergessen, dass es dir passiert ist. Du brauchst die Stärke Gottes, denn sonst kannst Du das niemals schaffen.

    Chantale Uwanyirigira, Genozid-Überlebende

    Eine große Menschenmenge in einer Siedlung in Ruanda.
    Am 7. April 1994 beginnt der Völkermord in Ruanda. Mit circa 800.000 Ermordeten gilt der Genozid an den Tutsi als eines der schwersten Verbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg. 04.04.2024 | 13:58 min

    Nach Völkermord: Wille zum Wiederaufbau

    Doch wie soll das funktionieren? Den Schmerz zu verdrängen, einen Neuanfang zu machen und zu vergessen? Jede Familie in dem kleinen ostafrikanischen Land hat tote Angehörige zu beklagen, hat ihre eigene Völkermord-Geschichte. Doch nach dem Ende des Genozids gab es eine klare politische Linie: Wir sprechen nicht mehr von Hutus und Tutsis, wir sind alle Ruanderinnen und Ruander. Und wir werden unser Land wieder aufbauen.
    Pastor Antoine Rutayisire war damals maßgeblich an der Arbeit des sogenannten Versöhnungskomitees beteiligt. Auch er hat seinen Vater, Onkel und Tanten, Cousins verloren. "Wir sind in einem Übergangsprozess. Und ich denke, dass wir drei Generationen brauchen werden, um das zu überwinden", erklärt der pensionierte Pfarrer.

    Wir haben persönliche Leben wieder aufgebaut, aber wir müssen auch die Herzen der Menschen wieder heilen. Es gibt immer noch viel Misstrauen, viele Ressentiments und Verwundungen.

    Antoine Rutayisire, Pfarrer in Ruanda

    In Ruanda erinnern die Menschen an den Beginn des Völkermordes an den Tutsi vor 30 Jahren.
    In Ruanda erinnerten am Sonntag die Menschen an den Beginn des Völkermordes.07.04.2024 | 1:46 min
    Noch immer suchen Hinterbliebene seinen Trost. Viele wissen bis heute nicht, wo ihre toten Familienmitglieder oder Freunde begraben liegen, weil ihre Mörder sie einfach achtlos am Straßenrand liegen ließen.

    250.000 Leichen in Genozid-Gedenkstätte

    Am Stadtrand von Ruandas Hauptstadt Kigali haben sie eine Genozid-Gedenkstätte errichtet. In dem friedvollen Garten liegen unter Betonplatten 250.000 Leichen begraben. Es sind die Toten nur aus der Hauptstadt. Weil die Familien keinen anderen Ort für ihre Trauer haben, schicken sie dem Museum immer wieder Fotos, Erinnerungen ihrer Liebsten. Es ist ein erschütternder Ort, der sprachlos macht, über das, was Menschen Menschen antun können. Allein 300.000 Kinder, so Schätzungen, haben ihr Leben im Genozid verloren.
    An sie wird im "Kinderraum" erinnert. Große Bilder von strahlenden Jungen und Mädchen, die ihre Zukunft noch vor sich hatten und deren Leben im nächsten Moment ausgelöscht wurden. Francine, zwölf Jahre, die am liebsten Eier und Pommes aß. Die Geschwister Irène und Patrick, die sich ihr wertvollstes Spielzeug, eine Puppe, teilten. Auf einer Tafel steht:

    Sie starben, weil ihnen eine friedliche Gesellschaft fehlte, in der sie aufwachsen und erblühen konnten.

    Gedenktafel, Genozid Gedenkstätte in Kigali

    Strafverfolgung des Genozids dauert an

    Eine friedliche Gesellschaft, zerstört von erbarmungslosen Mördern. Noch immer werden weltweit Täter aufgespürt, zuletzt in Südafrika und Frankreich. Eintausend internationale Haftbefehle sind weiterhin ausgestellt. Die Strafverfolgungsbehörden sind nach wie vor aktiv. "Ich denke, das ist sehr wichtig für Ruanda, aber auch für die internationale Justiz," sagt Serge Brammertz, der Chefankläger der Vereinten Nationen.
    Politiker mit dem Vertrag zum Internationalen Strafgerichtshof
    Vor 25 Jahre wurde die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes beschlossen. Er verfolgt Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen.17.07.2023 | 1:01 min
    "Man darf niemals Straftätern, die heute Straftaten begehen oder die vor zwanzig Jahren Straftaten begangen haben, den Eindruck geben, als ob ihnen nichts mehr passieren kann." Die Aufarbeitung des Genozids in Ruanda wird noch lange andauern.
    Susann von Lojewski ist Leiterin des ZDF-Studios Nairobi.

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