Aktivisten schlagen Alarm: Türkei: Zahl der Femizide steigt

    Aktivisten schlagen Alarm:Türkei: Zahl der Femizide steigt

    von Oliver Beckhoff
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    Tödliche Gewalt gegen Frauen nimmt in der Türkei zu. Viele Morde werden nicht strafrechtlich verfolgt, so Aktivistinnen. Warum sie auch die Regierung mitverantwortlich machen.

    Frauen demonstrieren für Frauenrechte.
    Frauen in der Türkei fordern einen besseren Schutz und eine Rückkehr ihres Landes zur Istanbul-Konvention (Archivbild)
    Quelle: dpa

    Muhterem Evcil wurde von ihrem Ehemann an ihrem Arbeitsplatz in Istanbul erstochen. Trotz eines Kontaktverbots hatte er sie dort wiederholt belästigt. Am Tag vor der Tat war er wegen eines Verstoßes gegen die einstweilige Verfügung festgenommen worden. Nach einer Befragung ließ ihn die Polizei gehen.
    Mehr als ein Jahrzehnt danach glaubt ihre Schwester, dass Evcil noch am Leben wäre, wenn die Behörden Gesetze zum Schutz von Frauen durchgesetzt und ihn eingesperrt hätten. Cigdem Kuzey erklärt:

    Solange der Gerechtigkeit nicht Genüge getan wird und die Männer immer in den Vordergrund gestellt werden, werden Frauen in diesem Land stets weinen.

    Cigdem Kuzey

    Forderung nach besseren Schutz von Frauen

    Die Ermordung Evcils im Jahr 2013 hatte Rufe nach einem besseren Schutz von Frauen in der Türkei zur Folge. Aktivisten sagen, das Land sei bei dem Ziel, Tötungen von Frauen zu verhindern, kaum vorangekommen. Gesetze zu ihrem Schutz würden nicht ausreichend durchgesetzt, Täter würden strafrechtlich nicht verfolgt.
    Protestierende Frauen
    Die Frauenrechte drohen in der Türkei weiter eingeschränkt zu werden. Nach dem Austritt aus der Istanbul-Konvention könnte nun ein weiteres Schutzgesetz verändert werden.16.05.2023 | 9:58 min
    Nach Angaben der Plattform "Wir beenden Frauenmorde" wurden in der Türkei im vergangenen Jahr mindestens 403 Frauen umgebracht. Die Täter waren meist frühere Partner oder diesen nahestehende Männer. In diesem Jahr wurden bislang 71 Frauen in der Türkei ermordet. Allein sieben waren es am 27. Februar - es ist der höchste bekannte Wert für einen einzelnen Tag.

    "Frauen in der Türkei wollen freier leben"

    Die Generalsekretärin der Anti-Femizid-Plattform, Fidan Ataselim, führt die Tötungen auf tief verankerte patriarchale Strukturen in dem mehrheitlich muslimischen Land zurück sowie auf eine größere Zahl von Frauen, die problematische Beziehungen verlassen wollen. Andere wollen außerhalb des Hauses arbeiten. "Die Frauen in der Türkei wollen freier und gleichberechtigter leben. Frauen haben sich sehr verändert und im positiven Sinne weiterentwickelt", sagte Ataselim.

    Die Männer können das nicht akzeptieren, sie versuchen den Fortschritt von Frauen gewaltsam zu unterdrücken.

    Fidan Ataselim, Generalsekretärin der Anti-Femizid-Plattform

    Die Türkei war das erste Land, das im Jahr 2011 die sogenannte Istanbul-Konvention unterschrieb und ratifizierte, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Doch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan machte den Schritt zehn Jahre danach rückgängig, was zu Protesten führte.

    Islamverbände und AKP für Abschaffung der Istanbul-Konvention

    Islamverbände und einige Vertreter von Erdogans erzkonservativer AKP hatten zuvor Druck ausgeübt. Sie machten geltend, dass der Vertrag gegen konservative Werte verstoße, die traditionelle Familie gefährde und zu Scheidungen ermutige.
    Erdogan hat gesagt, dass er glaube, dass Männer und Frauen biologisch nicht gleichwertig seien und dass die Priorität von Frauen bei ihren Familien und der Mutterschaft liegen solle. Er pocht darauf, dass die Türkei die Istanbul-Konvention nicht benötige. Und er hat versprochen, bei der Verhinderung von Gewalt an Frauen "die Messlatte konstant zu erhöhen". Im vergangenen Jahr verschärfte seine Regierung Gesetze zum Schutz vor Stalking, das fortan als Straftat galt, die mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden kann.

    Aktivisten: Gericht zu nachsichtig mit Tätern

    Familienministerin Mahinur Özdemir Göktas sagte, sie habe den Schutz von Frauen zu einer Priorität gemacht und verfolge Verfahren persönlich. Auch wenn die Opfer ihre Beschwerden aufgegeben hätten, "verfolgen wir sie weiter", sagte sie. "Jeder Fall ist einer zu viel für uns."
    Mehr Gleichberechtigung für Frauen
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    Aktivisten werfen den Gerichten vor, zu nachsichtig mit männlichen Tätern zu sein, die behaupten, sie seien provoziert worden, Reue zeigen oder sich während Prozessen gut benehmen. Kontaktverbote fielen zudem oft zu kurz aus - und wer gegen sie verstoße, werde nicht festgenommen, was Frauen einer Gefahr aussetze.
    Am Internationalen Frauentag (8. März) gehen in der Türkei jedes Jahr Frauenrechtlerinnen auf die Straße, ebenso am Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen (25. November), um einen besseren Schutz und eine Rückkehr ihres Landes unter die Istanbul-Konvention zu fordern. Die türkischen Behörden verbieten entsprechende Kundgebungen regelmäßig unter Verweis auf die Sicherheit und die öffentliche Ordnung.
    Quelle: AP

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