Experte: Berlin-Koalition mit "Sprengpotenzial"

    Interview

    Experte zu Wegner-Wahl:Koalition mit "Sprengpotenzial" von Anfang an

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    Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke zweifelt, ob die schwarz-rote Koalition in Berlin halten wird. Der neue Regierende Bürgermeister Wegner müsse Führungsstärke beweisen.

    Kai Wegner (l,CDU), Regierender Bürgermeister von Berlin ernennt Iris Spranger (SPD) zur Senatorin für Inneres und Sport.
    Es war ein wackliger Start: drei Wahlgänge brauchte Kai Wegner, um regierender Bürgermeister zu werden. Nun müssen sich der Neue und sein Team beweisen.28.04.2023 | 1:38 min
    ZDFheute: Herr von Lucke, wie würden Sie den Start von Kai Wegner gestern bewerten?
    Albrecht von Lucke: Der Start ist absolut fehlgeschlagen. Und diese Koalition startet in einer ungeheuren Hypothek in die nächsten Monate. Es stehen gewaltige Aufgaben für Berlin an, vor allem eine große Verwaltungsreform. Und wir erleben schon von Beginn an eine Koalition, die sich gewaltig in den Haaren liegt, wo eine Partei, CDU, der anderen, SPD, den Schwarzen Peter zuschiebt, hin und her, wer derjenige war, der die Stimmen nicht gegeben hat.
    Und ein zweites kommt noch hinzu: Die SPD ist in sich zutiefst gespalten.

    Es gibt gerade in der SPD einen großen Teil, der mit dieser Koalition gar nichts anfangen will. Also hier ist ein Sprengpotenzial von Anfang an angelegt.

    Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler

    ZDFheute: Was gilt es jetzt zu tun? Glauben Sie, dass Wegner, aufgrund dieser Missgunst und dieses Misstrauens seine Vorhaben und Pläne für Berlin umsetzen kann?
    von Lucke: Der neue Bürgermeister, der er jetzt ja ist, hat gestern schon versucht, Schadensbegrenzung zu betreiben. Er hat nämlich ziemlich generös die Verantwortung für dieses schwache Abschneiden auf beide Parteien verteilt. Er hat damit kenntlich gemacht, dass er nicht - was sehr wahrscheinlich ist - den Abgang vieler SPD-Stimmen ins Nichts, also gegen die neue Koalition, auch der SPD anzulasten. Das ist das Zentrale.
    27.04.2023, Berlin, Deutschland: Kai Wegner inmitten des Spaliers der Schornsteinfeger im Roten Haus in Berlin.
    CDU-Politiker Kai Wegner ist neuer Regierender Bürgermeister von Berlin. Die Abgeordnete wählten ihn erst nach langer Zitterpartie - mit einer ungeklärten Rolle der AfD.28.04.2023 | 1:51 min
    Er muss versuchen, den Streit aus der Koalition rauszutragen, ihn gar nicht erst aufbrechen zu lassen, damit vor allem die SPD sich nicht noch mehr in ihrer Ablehnung vertieft. Das versucht er, und das ist die allererste Voraussetzung überhaupt weitermachen zu können. Denn wenn es dieses Schwarze-Peter-Spiel von "Wer ist schuld?" dauerhaft gibt, dann hat diese Koalition keine Chance.
    ZDFheute: Nach dem zweiten Wahlgang hörte man aus der CDU die Option, die Wahl zu beenden und möglicherweise eine Koalition mit den Grünen zu suchen. Ist das noch immer eine Option?
    von Lucke: Die Option Schwarz-Grün ist mit dem gestrigen Tag meines Erachtens erledigt. Und zwar auch aufgrund der harten Attacken der Grünen gegen den neu gewählten Bürgermeister. Dass die Grünen so stark, gemeinsam mit der Linkspartei, Front gemacht haben gegen eine neue Regierung, die durchaus mit der Möglichkeit operiert hat, Stimmen auch von der AfD bekommen zu haben, das macht eigentlich den Sprung zu den Grünen unmöglich.

    Da wird es die Bereitschaft, jetzt eine Koalition mit Kai Wegner einzugehen, glaube ich, gar nicht mehr geben. Insofern ist er verdammt jetzt mit der SPD zu regieren.

    Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler

    Und das macht es für das Erpressungspotenzial in den Reihen der SPD, der Linken in der SPD, noch leichter, gegen diese Regierung zu spielen - die sie ja eigentlich von Anfang an nicht wollten.
    Auf dem Bild sind die neuen Mitglieder des Berliner Senats zu sehen.
    Mit dem dritten Wahlgang wurde Kai Wegner zum Bürgermeister von Berlin gewählt. Auch die Senatorenposten sind bereits verteilt. Der neue schwarz-rote Berliner Senat beginnt heute mit seiner Arbeit.28.04.2023 | 1:57 min
    ZDFheute: Die AfD behauptete gestern, die Mehrheit für Wegner sei mit ihren Stimmen zusammen gekommen. Wie ernst kann man dieses Manöver gestern nehmen? War das eine Finte oder ist das im Grund taktisch motiviert gewesen?
    von Lucke: Das AfD-Manöver war und ist übrigens immer taktisch motiviert. Die AfD hat nur ein Interesse: die anderen Parteien vorzuführen. Und das ist ihr hier auch wieder glänzend gelungen. Aber man muss aufpassen, dass man einem solchen Manöver nicht auf den Leim geht. Denn eines ist doch ganz klar: Die SPD und die CDU haben das ganz große Glück, dass die 86 Stimmen, die sie am Ende bekommen haben, genau der Mehrheit ihrer beiden Parteien entsprechen.
    Hätte die AfD klug optiert und hätte noch fünf bis zehn Leute mehr stimmen lassen, also wäre es deutlich über die 86 Stimmen gegangen, dann könnte sie mit Fug und Recht sagen: "Das sind unsere Stimmen, die mitgewählt haben". Und man muss auch dazu sagen: Es kommt letztlich darauf nicht an. Entscheidend ist, was diese Koalition in Zukunft mit diesem Ergebnis anfängt.
    ZDFheute: Glauben Sie denn, dass Schwarz-Rot nach dem gestrigen Tag auf Dauer angelegt ist oder ist es nur eine Übergangsphase?
    ZDF-Korrespondent Stephan Merseburger in Berlin im Gespräch mit Barbara Hahlweg.
    Erst im dritten Anlauf wurde Wegner von den Berliner Abgeordneten gewählt. In den beiden Wahlgängen zuvor verfehlte er die erforderliche Mehrheit. Stephan Merseburger berichtet.27.04.2023 | 1:21 min
    von Lucke: Die ganz entscheidende Frage ist, ob das Versprechen von Franziska Giffey, dass sie auf zehn Jahre betrachtet diese Stadt neu aufstellen will - nicht unbedingt zwangsläufiger Weise mit der CDU - aber ob dieses Kalkül für sie überhaupt noch aufgehen kann?
    Denn in der SPD tut sich ein gewaltiger Riss auf. In der SPD gibt es viele Kräfte, die jetzt vielleicht mit der Hand in der Tasche diese dreieinhalb Jahre durchstehen wollen, gemeinsam mit Franziska Giffey, was schwer genug sein wird für die stellvertretende Bürgermeisterin.
    Aber danach wollen weite Teile der SPD, die linken Teile, mit Giffey dezidiert nicht weitermachen.

    Das heißt, alles spricht dafür, dass aus Sicht der Linken in der SPD diese dreieinhalb Jahre eine reine Übergangszeit sein werden, wenn es mal überhaupt bis zum Ende dieser Koalition reicht.

    Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler

    ZDFheute: Was sind jetzt die primären Schritte, die Kai Wegner einleiten muss?
    von Lucke: Kai Wegner muss jetzt sofort, um Handlungsfähigkeit zu beweisen und dieses fatale Einstiegsmoment vergessen zu machen, die großen Projekte anpacken: Verwaltungsreform, Bildungsinnovation, mehr Sicherheit in der Stadt. Wenn das nicht gelingt, dann verliert er weiter an Autorität. Und er wird vor allem diejenigen in der SPD stärken, die die Autorität von Franziska Giffey sowieso untergraben wollen. Und dann wird der Streit in dieser Koalition immer weitergehen.
    Das Interview führte Markus Gross aus dem ZDF-Landesstudio Berlin.

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