Faktencheck zum ZDF-Sommerinterview mit Tino Chrupalla

    Faktencheck

    Chrupalla im ZDF-Sommerinterview:AfD-Migrationspläne Risiko für Deutschland?

    Autorenfoto Nils Metzger
    von Nils Metzger
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    Kann Deutschland den Fachkräftemangel wirklich ohne mehr Migration bewältigen? Was hat die AfD Familien mit geringem Einkommen zu bieten? AfD-Co-Chef Tino Chrupalla im Faktencheck.

    Tino Chrupalla
    Sehen Sie hier das ZDF-Sommerinterview mit dem AfD-Sprecher Tino Chrupalla. Darin macht Chrupalla für das Umfragehoch der AfD auch die Schwäche der Ampel verantwortlich.06.08.2023 | 19:28 min
    Die Alternative für Deutschland (AfD) sieht sich bereit für Regierungsverantwortung. Wer das beansprucht, muss sich auch an seinen Inhalten messen lassen. Im ZDF-Sommerinterview präsentierte der AfD-Co-Vorsitzende Tino Chrupalla abermals weniger EU und weniger Migration als Antwort auf die drängendsten politischen Fragen. Wie stichhaltig waren Chrupallas Argumente, wie korrekt die von ihm genannten Zahlen? Das Sommerinterview im Faktencheck.

    Wie viel Arbeitsmigranten braucht Deutschland?

    Deutschlands Wirtschaft hat mit einem wachsenden Mangel an Arbeitskräften zu kämpfen. Schon jetzt finden viele Branchen kaum ausreichend Fachkräfte, der volkswirtschaftliche Schaden ist enorm. Wirtschaftswissenschaftler und Arbeitgeberverband betonen: "Um dem Fachkräfte- und zunehmenden Arbeitskräftemangel zu begegnen und Wohlstand für alle zu sichern, brauchen wir auch mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland."
    Tino Chrupalla
    Eigentlich bräuchte Deutschland jedes Jahr 400.000 Zuwanderer gegen den Fachkräftemangel. AfD-Chef Tino Chrupalla spricht sich im ZDF stattdessen für mehr Nachwuchs aus. 07.08.2023 | 2:30 min
    Chrupalla hingegen glaubt, diese Herausforderung ohne zusätzliche Migration stemmen zu können. "Wir haben in der eigenen Bevölkerung genügend Potenzial, das wir schöpfen müssen", sagte Chrupalla unter Verweis auf rund 2,5 Millionen Arbeitslose und 2,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss.

    Wir haben eine de facto Ein-Kind-Politik. Da müssen wir ansetzen, damit wir in 20, 30 Jahren aus eigener Kraft heraus (…) mit unserem Nachwuchs wieder die Fachkräfte generieren können.

    Tino Chrupalla im ZDF-Sommerinterview

    Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge unterschätzt Chrupalla damit massiv das Ausmaß des Problems. Bis 2060 könnte die Zahl der potenziellen Arbeitnehmer um fast 16 Millionen Menschen sinken. Um den Bedarf auszugleichen, benötige Deutschland jedes Jahr eine Nettoeinwanderung von 400.000 Menschen, so die Bundesagentur für Arbeit. Im Jahr 2022 wurden zuletzt 739.000 Kinder geboren. Dass Deutschland seine Geburtenraten innerhalb weniger Jahre so steigert, dass Einwanderung dieser Größenordnung gänzlich unnötig wird, halten Experten für unrealistisch.
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    Auf dem heimischen Arbeitsmarkt sieht das Institut der deutschen Wirtschaft Köln darum kaum noch Potenzial: "Die Anzahl der Erwerbspersonen in Deutschland hat einen Höhepunkt erreicht. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung kann in Zukunft kaum mit weiteren Steigerungen gerechnet werden. Somit wird der Arbeitsmarkt als Quelle für weitere Wohlstandszuwächse schon in der mittleren Frist nicht mehr zur Verfügung stehen." Eine höhere Erwerbsquote von Frauen oder unpopuläre Maßnahmen wie eine Rente ab 70 könnten den Mangel nicht voll ausgleichen.
    Andere EU-Staaten stehen vor einer ähnlichen Herausforderung, daher werden Drittstaaten immer wichtiger beim Anwerben von Fachkräften. Laut der Bertelsmann-Studie sind jedes Jahr mindestens 146.000 Menschen von außerhalb der EU nötig.

    Was bietet die AfD Menschen mit kleinem Einkommen?

    Die AfD verkauft sich als Anwalt des kleinen Mannes und ist damit in Umfragen auch erfolgreich. Ein wichtiger Teil davon ist das Versprechen, Menschen mit kleinem Einkommen zu unterstützen:

    Wir haben ganz klare Konzepte für Geringverdiener. In meinem Wahlkreis ist das durchschnittliche Einkommen 2.500 Euro. Auch dieser Personenkreis, (…) muss natürlich entlastet werden. Nicht nur steuerlich, auch in Abgabenform. Im Übrigen auch für die, die Kinder großziehen.

    Tino Chrupalla im ZDF-Sommerinterview

    Tatsächlich spricht das AfD-Parteiprogramm aber eine andere Sprache. Forscher des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim haben 2021 die steuer- und sozialpolitischen Forderungen aller Bundestagsparteien untersucht. "Da sieht man gut, dass die AfD hinsichtlich der in der Studie berücksichtigten Vorschläge bei den Haushalten mit niedrigem Einkommen von allen Parteien am wenigsten im Angebot hatte", sagt ZEW-Ökonom Prof. Holger Stichnoth gegenüber ZDFheute.
    Konkret hätten Menschen mit einem Jahresbruttoeinkommen von weniger als 10.000 Euro keinen einzigen Euro mehr in der Tasche. Ein Ehepaar oder Alleinerziehende mit zwei Kindern hätten laut der Studie bei 40.000 Euro Jahreseinkommen nur 20 Euro mehr. Wer hingegen 120.000 Euro und mehr verdiene, profitiere deutlich.
    Veränderung des verfügbaren Jahreseinkommens
    ZDFheute Infografik
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    Wie viele Gesetze macht die Europäische Union?

    Die AfD fordert einen radikalen Rückbau der Europäischen Union. Ein Kritikpunk, den Chrupalla anführte: eine angebliche Fremdbestimmung des deutschen Parlaments durch EU-Vorgaben. Doch sind seine Zahlen korrekt?

    Es kann nicht sein, dass 70, 80 Prozent der Gesetzgebungen in Brüssel entschieden werden und wir im Prinzip in Berlin nur noch die Abnick-Kammer sind für diese unsäglichen Gesetze.

    Tino Chrupalla im ZDF-Sommerinterview

    Grundsätzlich unterscheidet die EU zweierlei Arten von Rechtsakten mit Gesetzescharakter:
    1. Verordnungen: Diese gelten unmittelbar wie ein nationales Gesetz
    2. Richtlinien: diese müssen innerhalb einer Frist in nationales Recht umgesetzt werden.
    Seit mehreren Jahrzehnten kursiert die angebliche Quote von 80 Prozent Gesetzgebungsanteil durch die EU. Ihren Ursprung hat sie wohl in einer Aussage des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors von 1988, der diesen Anteil für die Zukunft prophezeite. Seitdem wird dieser Wert immer wieder ungeprüft herangeführt.
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    Statistische Auswertungen kamen seitdem mehrfach auf deutlich niedrigere Werte. In der Legislaturperiode zwischen 2005 und 2009 habe der EU-Anteil etwa bei 31,5 Prozent gelegen. Neuere Zahlen sind jedoch kaum vorhanden, weshalb ZDFheute für die laufende Periode selbst nachgezählt hat.
    Von den 170 seit Oktober 2021 vom Bundestag verabschiedeten Gesetzesvorhaben fußen 51 auf Richtlinien der EU, genau 30 Prozent. Nimmt man auch die 197 EU-Verordnungen aus dem gleichen Zeitraum hinzu, kommt man auf einen EU-Anteil von rund 67,8 Prozent. Damit lag Chrupalla relativ nah am tatsächlichen Wert. Dass der Bundestag trotzdem souverän entscheidet, wie er EU-Richtlinien umsetzt und auch Institutionen wie das EU-Parlament demokratisch legitimiert sind, unterschlug der AfD-Politiker in seiner Antwort.

    Chrupalla mit falscher Zahl zu Staatsbediensteten

    Mit einer Aussage über die Zahl der öffentlichen Angestellten in Deutschland lag Chrupalla deutlich daneben. Die "Staatsquote" sei hoch wie nie, so der AfD-Co-Vorsitzende. "Staatsquote heißt, dass mittlerweile im öffentlichen Dienst, auch in der Beamtenschaft fast 52 Prozent aller Deutschen angestellt sind. Die produktiven Menschen in diesem Land, die wertschöpfend arbeiten, nimmt von Jahr zu Jahr ab", sagte Chrupalla weiter.
    Tatsächlich sind es deutlich weniger als 52 Prozent. "Deutscher Staat vergleichsweise schlank", fasst das Statistikportal statista zusammen. Die Quote der Beschäftigen im öffentlichen Sektor lag laut OECD 2021 bei 11,1 Prozent und damit deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 18,6 Prozent. In Frankreich, Großbritannien, den USA und anderen Industriestaaten gibt es deutlich mehr Staatsbedienstete. Zudem ist der Anteil in Deutschland seit dem Jahr 2000 laut statistischem Bundesamt gesunken.
    Worauf sich Chrupalla vermutlich in seiner Aussage bezog, sind die Staatsausgaben als Anteil des Bruttoinlandsprodukts, was auch als Staatsquote bezeichnet wird. Hier lag Deutschland 2021 bei rund 52 Prozent - und damit exakt im EU-Durchschnitt.

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