Israel: Die Ruhe nach dem Sturm - oder davor?

    Regierungskrise in Israel:Die Ruhe nach dem Sturm - oder davor?

    Michael Bewerunge
    von Michael Bewerunge
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    Seit Wochen wird in Israel gegen die Justizreform protestiert. Streitereien um Demokratie und Weltanschauung spalten die Bevölkerung. Was ist die verborgene Agenda von Netanjahu?

    Demionstranten auf den Straßen von Tel Aviv in Israel
    Israel ist tief gespalten und dieser Premierminister wird die Wunde nicht heilen können.
    Quelle: AP

    Die gute Nachricht vorweg: Israels Demokratie lebt! In einer beispiellosen Bewegung haben sich Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft zusammengefunden, um sich schützend vor die Grundfesten der israelischen Demokratie zu stellen: Politik, Justiz, Verwaltung, Wirtschaft, Finanzen, Armee, Rentner, Studenten - noch nie hat sich ein so breites Bündnis in Israel für ein gemeinsames politisches Ziel zusammengefunden. Viele der Protestierer waren vorher noch kein einziges Mal auf einer Demonstration.
    Dieses Bündnis hat einen fulminanten Sieg errungen: Benjamin Netanjahu musste dem Druck der Straße nachgeben, sonst wäre ihm die eigene Koalition um die Ohren geflogen. Der demokratische Protest erreichte zumindest die Zweifler in seiner Regierung. Nun ist die sogenannte Justizreform erst mal ausgesetzt und Regierung und Opposition verhandeln neu. So sehen es demokratische Spielregeln vor.

    So weit - so gut?

    Alles gut ist in Israel trotzdem nicht - so wie in jeder "normalen" Demokratie. Im Gegenteil haben sich zuletzt die antidemokratischen Tendenzen verstärkt. Um es klar festzuhalten: Natürlich hat die gewählte Regierung in Israel eine eindeutige demokratische Mehrheit. Hat sie deshalb auch das Recht, die demokratische Verfassung nach Belieben zu verändern? Im Verständnis der meisten demokratischen Staaten der Welt ein Ding der Unmöglichkeit, im Verständnis der rechts-religiösen israelischen Regierung eine Selbstverständlichkeit.
    Zum Beispiel Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes, der in Israel zugleich als oberstes Verfassungsgericht fungiert, mit der Mehrheit der Knesset-Abgeordneten zu überstimmen. Eine solche Aushebelung der Gewaltenteilung ist in anderen Demokratien faktisch ausgeschlossen.

    Geburtsfehler bei der Gründung 1948

    Doch Israel - ein Geburtsfehler bei der Gründung 1948 - hat keine ausformulierte Verfassung und nur eine parlamentarische Kammer. Die Exekutive kann quasi durchregieren, selbst wenn ihre ultra-religiösen und ultra-nationalistischen Mitglieder extremistische Vorstellungen von einer Gesellschaft haben.
    In dieser Situation einen Kompromiss auszuhandeln ist eigentlich unmöglich. Ein bisschen Gewaltenteilung kann schlechterdings nicht funktionieren. Einen Formelkompromiss aber würden sowohl Rechtskonservative wie Linksliberale enttarnen. Die beiden Züge, die gerade zeitweise auf einem Nebengleis geparkt sind, könnten also schon bald wieder aufeinander zurasen.

    Zwei Welten prallen aufeinander

    Hinzu kommt, dass mit den beiden Loks Welten aufeinanderprallen. Die Welt der Säkularen auf die Parallelwelten der Ultra-Religiösen und Ultra-Zionisten. Die beiden letztgenannten gewinnen neue Wähler weniger durch Überzeugung als durch hohe Geburtenraten hinzu. Beobachter sprachen bei der letzten Wahl von der ersten "demographischen" in Israel.
    Demokratie, Aufklärung und Humanismus vertragen sich nicht mit Visionen vom Gottesstaat oder von einem Groß-Israel, das laut Finanzminister Smootrich nicht nur das Westjordanland, sondern ganz Jordanien (!) umfasst.

    Verfahren wegen Untreue, Korruption und Betrug gegen Netanjahu

    Bei allen Streitereien um Demokratie und Weltanschauung, sollte die verborgene Agenda hinter all dem benannt werden. Es ist die Agenda von Benjamin Netanjahu und die heißt: Benjamin "Bibi" Netanjahu. Der Premier steht in drei Verfahren wegen Untreue, Korruption und Betrug vor Gericht. Nur wenn er an der Macht bleibt und Kontrolle über die Justiz hat, kann er sicher sein, diese Prozesse schadlos zu überstehen. Honi soit, qui mal y pense, sagen die Franzosen schelmisch zu so einem Zufall: Schlechtes dem, der schlecht darüber denkt.
    Bibis Anhänger blenden diesen Zusammenhang aus, beziehungsweise sprechen nicht ohne Grund von "King Bibi": der König ist sakrosankt. Seine politischen Gegner und die Hunderttausenden auf Israels Straßen sprechen dagegen bewusst vom "Crime Minister". Der Protest gegen den ist nicht vom Protest gegen die sogenannte Justizreform zu trennen - und umgekehrt. Israel ist tief gespalten und dieser Premierminister wird die Wunde nicht heilen können, solange er im Amt bleibt.

    Heftige Proteste in Israel
    :Netanjahu verschiebt umstrittene Justizreform

    Die israelische Regierung um Ministerpräsident Netanjahu verschiebt nach massiven Protesten die geplante Justizreform. Nach einer Parlamentspause soll die Debatte weitergehen.
    Die israelische Polizei setzt einen Wasserwerfer gegen Demonstranten ein, die während eines Protestes gegen die Pläne der Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu, das Justizsystem in Tel Aviv, Israel, zu überholen, eine Autobahn blockieren.

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