Expertin: Lage in Tunesien "schlechter als jemals zuvor"

    Interview

    Tunesien-Expertin Weipert-Fenner:"Lage ist heute schlechter als jemals zuvor"

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    Der tunesische Präsident Kais Saied lässt seine Gegner verhaften und schürt Rassismus gegen Migranten. Warum? Ein Gespräch mit Tunesien-Expertin Irene Weipert-Fenner.

    Tunisia Migrants
    Allein in den letzten vier Tagen haben tunesische Einsatzkräfte mehr als 1800 Geflüchtete festgenommen, die die illegale Überfahrt nach Europa wagen wollen. Nun werden Stimmen lauter, die ein Migrationsabkommen mit Tunesien fordern.27.04.2023 | 2:28 min
    ZDFheute: Tunesien galt bisher als demokratisches Musterbeispiel des arabischen Frühlings. Was ist aus der Revolution geworden?
    Irene Weipert-Fenner: Leider hat sich die politische Lage in Tunesien dramatisch verschlechtert. Saied hat in den vergangenen zwei Jahren einen Kurs der Autokratisierung eingeschlagen. Er hat eine neue Verfassung erlassen, die die Gewaltenteilung einschränkt und die Macht bei ihm konzentriert. Zunehmend werden Oppositionelle, Journalisten und Gewerkschafter inhaftiert.
    Auch wirtschaftlich ist die Lage sehr schlecht, verstärkt durch Corona und den Krieg in der Ukraine.

    Die Preise sind immens gestiegen, in Tunesien kommt es immer wieder zu Nahrungsmittelengpässen. Die Arbeitslosigkeit ist konstant sehr hoch.

    Irene Weipert-Fenner, Tunesien-Expertin

    Irene Weipert-Fenner
    Quelle: HSFK

    ...forscht am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung zu innerstaatlichen Konflikten und sozialen Bewegungen. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Nordafrika, insbesondere Tunesien.

    ZDFheute: Der Präsident propagiert öffentlich Verschwörungstheorien und hat damit kürzlich eine Welle an Rassismus und Gewalt gegen Migranten ausgelöst. Was steckt dahinter?
    Weipert-Fenner: Man kann nicht ausschließen, dass auch Saied Anhänger dieser rassistischen Ideologie ist. Der Zeitpunkt aber ist politisch geschickt gewählt. Denn langsam kommt Saieds Erzählung an ihr Ende, die Opposition bestehe aus Verrätern und Terroristen und sei daher der Grund für die Probleme im Land. Nun hat er die klassische Sündenbockkarte gezogen und den Rassismus, der in der tunesischen Gesellschaft schon vorher existierte, angeschürt.
    Tunisia Migrants
    Allein in den letzten vier Tagen haben tunesische Einsatzkräfte mehr als 1800 Geflüchtete festgenommen, die die illegale Überfahrt nach Europa wagen wollen. Nun werden Stimmen lauter, die ein Migrationsabkommen mit Tunesien fordern.27.04.2023 | 2:28 min
    ZDFheute: Diese rassistische Gewalt, wie sieht die konkret aus?
    Weipert-Fenner: Die Äußerungen haben zu gewalttätigen Mobs auf der Straße geführt. Menschen mit schwarzer Hautfarbe fürchten um ihr Leben. Sie haben ihre Jobs und Wohnungen verloren. Einige Subsahara-Afrika Länder haben ihre Bürger und Bürgerinnen auch wieder ausgeflogen.
    Der tunesische Staatspräsident Kais Saied steht vor einer tunesischen Flagge an einem Rednerpult.
    Tunesiens Präsident Kais Saied propagiert öffentlich Verschwörungstheorien. Archivbild
    Quelle: Reuters (Archiv)

    ZDFheute: Wie verhält sich die Europäische Union? Macht sie Saied Druck?
    Weipert-Fenner: Die EU hat lange versucht, an Tunesien als Erfolgsfall für Demokratisierung in der arabischen Welt festzuhalten. Daher war ihre Kritik sehr verhalten. Seit 2015 liegt der Fokus auf Migrationskontrolle und Terrorismusbekämpfung, es flossen viele Gelder von der EU an Tunesien.
    Auch wenn die Kritik am repressiven Kurs von Saied jetzt endlich zunimmt, hoffen manche, mit Saied als Kooperationspartner das Thema Flucht und Migration in den Griff zu bekommen.
    Migration Tunesien Europa
    Die Zahl der Geflüchteten aus Tunesien nimmt zu: Ein Grund dafür ist der zunehmende autokratische Kurs von Präsident Saied. Der Traum von einem besseren Leben in Europa ist groß.28.04.2023 | 2:36 min
    ZDFheute: EVP-Chef Manfred Weber und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni haben einen neuen Flüchtlingspakt mit Tunesien gefordert. Wie bewerten Sie das?
    Weipert-Fenner: Das ist sehr kritisch zu sehen, denn es ist eine klare Priorisierung von kurzfristiger Stabilität, auch wenn es erstmal solidarisch gegenüber Italien klingt. Die Aussagen zeigen zum einen das Grundproblem der EU, dass sie sich nach wie vor nicht darüber verständigt hat, wie man geflüchtete Menschen innerhalb der EU verteilen kann.
    Zum anderen zieht man überhaupt nicht in Betracht, was mit den Menschen vor Ort in Tunesien geschieht. Die Geflüchteten aus Subsahara-Afrika sehen sich der Gefahr ausgesetzt, Opfer rassistischer Gewalt zu werden.
    Manfred Weber
    Europapolitiker Manfred Weber (CSU) kritisiert, dass Europa in eine neue Flüchtlingskrise schlafwandele. Die EU-Kommission müsse unter anderem ein Abkommen mit Tunesien verhandeln.23.04.2023 | 0:24 min
    ZDFheute: Würde mehr Geld aus Europa nicht das Regime des Präsidenten an der Macht halten?
    Weipert-Fenner: Mit der Revolution 2011 kam auch die Hoffnung auf soziale und wirtschaftliche Fortschritte auf, die jedoch enttäuscht wurden und damit dem Populisten Saied den Weg zur Macht ebneten. Doch auch mit Saied ging die Erwartung, dass sich Lebensumstände bald verbessern würden, Stück für Stück verloren, die Lage ist heute schlechter als jemals zuvor.
    Gleichzeitig hat Saied Polizei und Militär ausgebaut und sie gegen seine Gegner eingesetzt. Weitere Zahlungen der EU kämen dem wirtschaftlich angeschlagenen Land, dem ohne ein baldiges Abkommen mit dem IWF die Zahlungsunfähigkeit droht, daher sehr gelegen. Saied könnte seine Macht durch eine Stärkung der Sicherheitskräfte weiter festigen.
    Die Fragen stellten Anne Arend und Lukas Nickel.

    Islamistenführer Ghannouchi
    :Tunesien: Oppositionsparteichef festgenommen

    In Tunesien ist der einflussreiche Islamistenführer Rached Ghannouchi festgenommen worden. Der 81-Jährige ist Anführer der Ennahdha-Partei, die als größte Partei des Landes gilt.
    Rached Ghannouchi umringt von Medienvertretern und Anhängern.

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