Scholz: Europa ist "Absage an Autokratie und Imperialismus"

    Kanzler in Tschechien:Scholz: Europa ist "Absage an Autokratie"

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    Europa sei in Frieden geeint und offen für alle europäischen Nationen, macht Kanzler Scholz in einer europapolitischen Grundsatzrede klar. Wie er sich die Zukunft der EU vorstellt.

    In seiner 60-minütigen Rede positionierte Bundeskanzler Olaf Scholz sich erstmals umfassend in der Europapolitik. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine – für Scholz eine "Zeitenwende" - spielte dabei eine große Rolle. Für den Kanzler stelle die Europäische Union ursprünglich ein nach innen gerichtetes Friedensprojekt dar. Nun müsse die EU ihre Werte verteidigen und ihre Unabhängigkeit sowie Stabilität auch nach außen sichern.

    Putins Russland will mit Gewalt neue Grenzen ziehen – etwas, das wir in Europa nie wieder erleben wollten. Der brutale Überfall auf die Ukraine ist somit auch ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung.

    Olaf Scholz, Bundeskanzler

    "Für den Kanzler ist die Zeitenwende auch ein außenpolitischer Weckruf. Er sagt, wir brauchen dringend eine Erweiterung der europäischen Union, die Ukraine, Moldau, möglicherweise sogar auch Georgien, aber auf jeden Fall die Balkanstaaten sollten schnell aufgenommen werden. Und er fordert weniger Einstimmigkeit, damit die Europäische Union beweglicher wird. Zahlungen der EU sollen an Rechtsstaatlichkeit geknüpft werden. Und er fordert, dass legale Zuwanderung in die EU, die ja dringend gebraucht wird, sehr viel schnell dann auch in den Arbeitsmarkt Einfluss finden könnte. Insgesamt ist einer der Kernsätze für mich gewesen, die Ideologie sei dem Pragmatismus gewichen", fasst ZDF-Korrespondent Theo Koll zusammen.

    Scholz will neues Luftverteidigungssystem für Europa

    "Dem stellen wir uns mit aller Entschlossenheit entgegen. Dafür brauchen wir eigene Stärke – als Einzelstaaten, im Verbund mit unseren transatlantischen Partnern, aber eben auch als Europäische Union", sagte Kanzler Scholz in seiner Rede an der Karls-Universität in Prag.
    Die Europäische Union in die Lage zu versetzen, "ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Stabilität auch gegenüber Herausforderungen von außen zu sichern", sei die "neue Friedensaufgabe Europas". "Das ist es, was wohl die meisten Bürgerinnen und Bürger von Europa erwarten – und zwar im Westen wie im Osten unseres Kontinents."
    Gemeinsam mit europäischen Nachbarn wolle Scholz ein neues Luftverteidigungssystem aufbauen. Ein gemeinsam aufgebautes System "wäre ein Sicherheitsgewinn für ganz Europa", sagte Scholz. Zudem wäre es kostengünstiger und effizienter als nationale Lösungen.
    Olaf Scholz in Prag
    Bei einer Pressekonferenz in Prag sagte Bundeskanzler Scholz, die EU müsse stärker werden. Sowohl wirtschaftlich als auch militärisch, zum Beispiel mit Hinblick auf die Ukraine.29.08.2022 | 2:02 min

    Bundeskanzler: Europäische Antworten auf Zeitenwende geben

    Tschechien leite Europa, als Träger der EU-Ratspräsidentschaft, "in die richtige Richtung". Scholz freue sich gemeinsam mit Ministerpräsident Fiala, "die richtigen, europäischen Antworten auf die Zeitenwende zu geben". Die erste davon laute: "Wir nehmen Russlands Angriff auf den Frieden in Europa nicht hin!", so Scholz. "Wir sehen nicht einfach zu, wie Frauen, Männer und Kinder umgebracht, wie freie Länder von der Landkarte getilgt werden und hinter Mauern oder eisernen Vorhängen verschwinden. Wir wollen nicht zurück ins 19. oder 20. Jahrhundert, mit seinen Eroberungskriegen und seinen totalitären Exzessen."

    Unser Europa ist in Frieden und Freiheit geeint, offen für alle europäischen Nationen, die unsere Werte teilen. Vor allem aber ist es die gelebte Absage an Imperialismus und Autokratie.

    Olaf Scholz, Bundeskanzler

    Die Europäische Union funktioniere nicht durch "Über- oder Unterordnung". Es ginge um Augenhöhe zwischen all ihren Mitgliedern, um Pluralität und den Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Putin sei "genau dieses vereinte Europa ein Dorn im Auge". "Weil es nicht in seine Weltsicht passt, in der sich kleinere Länder einer Handvoll europäischer Großmächte zu fügen haben", so Scholz.

    Scholz schlägt regelmäßige EU-Treffen vor

    Scholz beschrieb in seiner Rede sein Ziel einer geopolitischen Europäischen Union. Der russische Angriffskrieg habe gezeigt, dass eine gut koordinierte Außenpolitik dafür Voraussetzung sei. Deshalb schlug der Kanzler regelmäßige Treffen der Staats- und Regierungschefs aller europäischer Länder vor – und schloss sich damit dem Vorschlag Frankreichs an.
    Der französische Präsident Macron will ein Forum der Europäischen Politischen Gemeinschaft schaffen, das sich an Nicht-EU-Mitglieder wendet.
    Tweet von ZDF-Reporter Florian Neuhann
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    Kanzler befürwortet EU-Erweiterung

    Solch ein Zusammenschluss sei allerdings "keine Alternative zur anstehenden EU-Erweiterung", so Scholz. Länder wie die Ukraine, die Republik Moldau oder Georgien gehören für ihn "zum freien, demokratischen Teil Europas". Ihr EU-Beitritt sei im Interesse Europas, so der Kanzler. Scholz wolle Europa unabhängiger und stärker werden lassen.
    Deutschlands Verantwortung für Europa liege für Scholz darin, "dass wir zusammen mit unseren Nachbarn Lösungen erarbeiten und dann gemeinsam entscheiden". "Ich will keine EU der exklusiven Clubs oder Direktorien. Sondern eine EU gleichberechtigter Mitglieder".
    Außerdem stellte Scholz fest:

    Dass die EU weiter in Richtung Osten wächst, ist für uns alle ein Gewinn! Deutschland, als Land in der Mitte des Kontinents, wird alles dafür tun, Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenzuführen.

    Olaf Scholz, Bundeskanzler

    Scholz für bessere Koordination der Rüstungshilfe für die Ukraine

    Scholz sprach sich für eine bessere Koordination der Rüstungshilfe für die von Russland angegriffene Ukraine aus. "Gemeinsam mit den Niederlanden haben wir deshalb eine Initiative gestartet, die auf eine dauerhafte und verlässliche Arbeitsteilung zwischen allen Partnern der Ukraine abzielt", sagte der SPD-Politiker. "Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass Deutschland besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung übernimmt. Auf solch ein System der koordinierten Unterstützung sollten wir uns schnell verständigen."
    Scholz betonte: "Unser Ziel sind moderne ukrainische Streitkräfte, die ihr Land dauerhaft verteidigen können. Dafür dürfen wir aber nicht nur das an Kiew liefern, worauf wir selbst gerade verzichten können." Es brauche "mehr Planung und Koordination".

    "Scholz hat eine Reihe von Forderungen aufgestellt. Beispielsweise sagt er, man brauche viel mehr gemeinsame Rüstungen, es gebe viel zu viele unterschiedliche Waffensysteme. Er sagt, wir brauchen eine gemeinsame Luftverteidigung. Deutschland sei da übrigens bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen. Und die schon besprochene stille Eingreiftruppe soll ab 2025 kommen. Dann auch mit einem eigenen EU-Hauptquartier. Also insgesamt ist sein Tenor, wir haben und wir brauchen ein souveräneres Europa mit Eigenverantwortung in einer multipolaren Welt", fasst ZDF-Korrespondent Theo Koll zusammen.

    Scholz: "An die Spitze zurückkämpfen"

    Darüber hinaus forderte Scholz in seiner Rede den Ausbau weltweiter Handelsbeziehungen und eine "echte europäische Kreislaufwirtschaft". "Ich möchte ein Europa, das Vorreiter ist bei wichtigen Schlüsseltechnologien", so der Kanzler.

    Dort, wo Europa verglichen mit dem Silicon Valley, Shenzhen, Singapur oder Tokio zurückliegt, werden wir uns an die Spitze zurückkämpfen.

    Olaf Scholz, Bundeskanzler

    Scholz fordert mehr Rechtsstaatlichkeit

    Für den Kanzler ist Europa eine Werte- und Rechtsgemeinschaft. Scholz schlägt deshalb vor, künftig auch bei Verstößen gegen die Grundwerte der EU – wie beispielsweise gegen die Menschenwürde - Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.

    Denn die Rechtsstaatlichkeit ist ein Grundwert, der unsere Union einen sollte. Gerade in diesen Zeiten, da die Autokratie unsere Demokratien herausfordert, ist das wichtiger denn je!

    Olaf Scholz, Bundeskanzler

    Zugleich wünscht Scholz sich, dass man sich in der EU nicht um Rechtsstaatlichkeit streiten müsse. Was die EU neben Verfahren und Sanktionen vor allem brauche sei ein "offener Dialog auf politischer Ebene".

    Scholz: "Europa ist unsere Zukunft"

    "Es geht um unsere Zukunft, die Europa heißt", bilanzierte Scholz am Ende.

    Dieses Europa ist heute gefordert wie nie. Wann, wenn nicht jetzt, – da Russland die Grenze zwischen Freiheit und Autokratie zu verschieben sucht – legen wir die Grundsteine für eine erweiterte Union der Freiheit, der Sicherheit und der Demokratie?

    Olaf Scholz, Bundeskanzler

    "Wann, wenn nicht jetzt, schaffen wir ein souveränes Europa, das sich behaupten kann in einer multipolaren Welt? Wann, wenn nicht jetzt, überwinden wir die Differenzen, die uns seit Jahren lähmen und spalten? Und wer, wenn nicht wir, könnte Europas Werte schützen und verteidigen – im Innern wie nach außen? Europa ist unsere Zukunft. Und diese Zukunft liegt in unseren Händen."
    Quelle: dpa, ZDF