"Atlantikwall" der Nazis: SS-Zwangsarbeit auf Alderney

    "Holocaust auf Alderney":SS-Zwangsarbeit auf britischem Boden

    Hilke Petersen, ZDF-Korrespondentin in London
    von Hilke Petersen, London
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    Die britische Insel Alderney sollte Teil des "Atlantikwalls" der Nazis werden und wurde zu einer Insel voll mit Bunkern, errichtet von Zwangsarbeitern. Wie viele starben dort?

    Die Insel Alderney
    Im Zweiten Weltkrieg betrieben die Nazis auf der Kanalinsel Alderney das einzige Konzentrationslager auf britischem Boden. 21.09.2023 | 2:27 min
    Auf der kleinen Insel Alderney im britischen Ärmelkanal leben heute etwa 2.000 Menschen. Was vor 80 Jahren in ihrer Heimat während des Zweiten Weltkriegs geschah, die Debatte spaltet die Bewohner.
    Jetzt umso mehr, als die britische Regierung eine Untersuchungs-Kommission eingesetzt hat, die die Fakten zusammentragen soll: Wie viele könnten bei Zwangsarbeit für die Nazis in den 40er Jahren auf Alderney umgekommen sein?
    Plakat von den Nazi-Verbrechen
    Ein Buch dokumentiert die Nazi-Verbrechen von Alderney.
    Quelle: ZDF

    Festungsanlagen auf "Adolf Island" bauten Zwangsarbeiter

    Die Lager auf der nur acht Quadratkilometer großen Insel trugen klangvolle Namen: Helgoland. Borkum. Lager Norderney - einst dort, wo heute an schöner Küste ein Campingplatz liegt.
    Dann noch Sylt, das schlimmste Lager, ein KZ. Dort hatte die SS ihre Baubrigaden untergebracht, die aus sogenannten "Ostarbeitern" bestanden, aus Russen, Ukrainern, Polen. Zudem aus KZ-Häftlingen der Lager Neuengamme und Sachsenhausen: Alle gezwungen, überall auf der Insel Festungsanlagen zu bauen. Etwa Beton-Bunker des Typs 680, in denen Panzer-Abwehr-Waffen eine mögliche Attacke der Alliierten verhindern sollten.
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    Denn 1940 glaubten die Nazis noch an einen Endsieg und planten den von Hitler angeordneten "Atlantikwall": Befestigungsanlagen von Norwegen bis Spanien, um ihr neues europäisches Reich verteidigen zu können. Auch das knapp 13 Kilometer vor Frankreichs Küste liegende Alderney wurde so zu "Adolf Island".

    Gerüchte quälen die Inselbewohner seit Jahrzehnten

    Im Osten, nahe des beschaulichen Leuchtturms, gibt es eine Gedenkstätte für die Opfer aller Nationalitäten, das Hammond-Memorial. Offiziell gehen sie auf der Insel von etwa 380 Toten aus. Doch Gerüchte über Massengräber und bis zu 40.000 Toten gibt es schon lange, auch Schlagzeilen wie "Holocaust auf Alderney".
    Seriöse Rechercheure halten viele der Gerüchte logistisch für kaum möglich, waren doch die Reise- und Versorgungswege über den englischen Kanal beschwerlich und oft unter Beschuss.
    Etwa 4.000 deutsche Militärangehörige hielten sich zwischen 1940 und 1945 auf Alderney auf. Sie bewachten etwa 6.000 Zwangsarbeiter, so nimmt man an, die vom Frühjahr 1942 bis Sommer 1944 zwölf Stunden täglich schufteten, Hungerrationen bekamen, von Wehrmachts-Angehörigen misshandelt wurden. Die kleine Insel war in großen Teilen von Minenfeldern überzogen und unzugänglich.

    Erinnerungskultur? Einheimische winken ab

    Mit Journalisten wollen Insel-Verwaltung und Einheimische heute ungern reden, von all den Schlagzeilen haben sie genug. Auf der Straße im Hauptort Saint Anne trifft man die, die finden, man solle die Toten einfach ruhen lassen. Nicht mehr nachfragen. Zu lange her. Und andere, die neue Aufklärung begrüßen. Das Museum im Ort hat eine Ausstellung zur Besatzung, rein darf das ZDF-Team mit seiner Kamera da nicht.
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    Tim Butler, Moderator der Radiostation Quay FM auf der Insel, beschreibt die Stimmung angesichts der neuen Untersuchung: Die Leute hier seien sehr glücklich auf ihrer kleinen Insel, seien stolze Bewohner. Sie könnten nicht verstehen, warum nun alles wieder hochgezogen werde, da doch die Bewohner nichts zu tun hätten mit den Grausamkeiten. Die hätten allein die Nazis und ihre Kriegs-Maschinerie zu verantworten.

    Evakuierung während der deutschen Besatzung

    Warum hatten die Briten den Deutschen ihre Insel kampflos überlassen und die damals etwa 1.400 Bewohner aufs britische Festland evakuiert? Kriegs-Premierminister Churchill war überzeugt, die Insel am äußersten Rand des Königreichs militärisch nicht halten zu können. So kam es, dass nur noch etwa 16 Alderney-Bewohner auf der Insel lebten, als das britische Militär kurz nach dem D-Day die völlig zerstörte Insel befreiten.
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    Erst ein halbes Jahr später kehrten die Einwohner zurück - ein traumatisches Erlebnis, denn ihr Besitz, Teile der Häuser und Möbel, waren weitgehend verfeuert worden in fünf Jahren deutscher Besatzung.
    Der Vorsitzende der britischen Untersuchungskommission Lord Eric Pickles sagt: Aufklärung sei wichtig für das Andenken an die Opfer. Die Nazis hätten auch inmitten der Idylle einer so schönen Insel gemordet. Was genau die Nazis auf britischem Boden alles anrichteten - die Experten-Gruppe will im Frühjahr 2024 ihre Erkenntnisse präsentieren.

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