Spezialheime in der DDR: "Ging darum, den Willen zu brechen"

    Interview

    Ex-Insasse über Heimsystem:DDR: Wo der Wille Jugendlicher brechen sollte

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    Schwer erziehbare Kinder landeten in der DDR in Heimen wie dem Jugendwerkhof Torgau. Die Bedingungen waren wie in der Haft und schlimmer, erzählt Alexander Müller.

    Eine Frau von der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau.
    135.000 sogenannte schwer erziehbare Kinder und Jugendliche wurden in DDR-Spezialheime eingewiesen, etwa in Torgau. Eine Ausstellung soll an die Schicksale der Menschen erinnern.23.11.2024 | 1:45 min
    In einer neuen Dauerausstellung "Ich bin als Mensch geboren, und will als Mensch hier raus" erinnert die Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau an das Leid Zehntausender Kinder und Jugendlicher in der DDR.
    Alexander Müller war insgesamt elf Monate im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau - Endstation des repressiven Heimsystems der DDR, in dem Jugendliche gewaltsam zu sozialistischen Persönlichkeiten geformt werden sollten. Das, was der 55-jährige Plauener dort erlebt hat, verfolgt ihn bis heute. Er bezieht Erwerbsminderungsrente, engagiert sich ehrenamtlich für Aufklärung und Demokratieförderung. Im Interview mit ZDFheute erzählt er von seinen Erfahrungen.
    ZDFheute: Was empfinden Sie, zurück im ehemaligen geschlossenen Jugendwerkhof Torgau?
    Alexander Müller: Triumph darüber, dass ich hier sitzen kann an dem Ort meiner Peinigung, dem Ort sehr schwerer körperlicher und seelischer Verletzungen. Auf der anderen Seite weiß ich, dass noch eine ganze Menge zu tun ist, um eine echte Gerechtigkeit für das Land und die Betroffenen herzustellen.

    Alexander Müller
    Quelle: Jugendwerkhof Torgau

    ... wurde 1969 in Plauen geboren. Er war ab 1980 in verschiedenen Heimen. 1984 war er fünf Monate im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau untergebracht, 1985 noch einmal sechs Monate.

    Heute wohnt Müller in Plauen. Seit 2010 ist er als Zeitzeuge in der historisch-politischen Bildungsarbeit der Gedenkstätte tätig, zudem ist er aktives Mitglied im Colorido e.V. Plauen und seit 2023 im Vorstand der Initiativgruppe GJWH Torgau.

    ZDFheute: Welche seelischen und körperlichen Peinigungen haben Sie hier erlitten?
    Müller: Wir mussten Zwangsarbeit leisten im Akkord. Wir waren mit permanenter Normsteigerung konfrontiert. Wir haben für Westprodukte gearbeitet, die in der DDR gefertigt wurden. Dann der Zwangssport. Man kommt völlig erschöpft von der Arbeit und dann geht's raus auf den Appellhof und rauf auf die Sturmwand. 200, 300 Mal. Danach noch um die 25 Kilometer gerannt. Es ging darum, den Willen zu brechen.
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    ZDFheute: Wie geht es Ihnen heute? Wie geht es anderen Ehemaligen?
    Müller: Ich möchte andere Ehemalige ermutigen, sich zu melden. Von den ca. 4.000 Menschen, die in Torgau eingewiesen waren, können heute nur sehr wenige über ihre Erfahrungen reden. Das hängt auch mit dem seelischen Zustand zusammen. Ich selbst habe eine posttraumatische Belastungsstörung, falle schnell in ein Loch, in eine Depression.

    Die Kopie einer Meldung des früheren Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau wird in der neuen Ausstellung der Gedenkstätte gezeigt.
    Quelle: dpa/Hendrik Schmidt

    Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau war offiziell die einzige geschlossene Heimeinrichtung der DDR. Dort sollten Jugendliche gewaltsam zu sozialistischen Persönlichkeiten geformt werden und mussten unter anderem Zwangsarbeit leisten.

    ZDFheute: Nach außen wirken Sie so stark …
    Müller: Das ist etwas, was ich in Torgau gelernt habe: Man darf nichts nach außen zeigen. Ob man sich freut, oder ob man traurig ist. Deswegen gab es hier auch keine Freundschaften.

    Man hat sich niemanden offenbart - aus Angst, dass man verraten wurde.

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    ZDFheute: War sexuelle Gewalt ein Mittel der Erniedrigung?
    Müller: Ja. Ich hatte einen speziellen Erzieher, der es sehr auf mich abgesehen hatte. Wenn ich Liegestütze gemacht habe, kam er und drückte mir sein Knie in die Schulter. Dann zählte er - eins, zwei. Bei zwei sollte ich wieder hochkommen, doch er drückte dann noch mehr. Wie soll man dann hochkommen? Dann sieht man in seinem Gesicht, wie er sich daran befriedigt. Das ist für mich schon eine Art sexualisierter Gewalt. Und im Arrestraum war man allein. Dann geht die Tür auf und jemand kommt rein. Man kann dem nicht entkommen. Wenn jemand diesen Entschluss gefasst hatte, dann war man eben fällig. Da möchte ich nicht weiter ins Detail gehen.
    ZDFheute: Warum landeten Sie in Torgau?
    Müller: Ich konnte noch nie jemandem leicht folgen, bin gern allein. Das war in der DDR schwierig, weil alles über das Kollektiv lief. Ich war dafür einfach nicht gemacht. Ich wollte mein Leben leben, wollte mir nicht vorschreiben lassen, was ich zu denken habe, welche Musik ich zu hören habe, was ich anzuziehen habe - dem hab ich mich eben entzogen.
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    ZDFheute: Verspüren Sie Hass?
    Müller: Ich habe Rachegedanken gehabt, so um die Wende herum. Aber dann hatte ich mein eigenes Leben und gemerkt, dass Rache mich nicht weiterbringt und mich eher blockiert. Ich hab vergeben, aber ich werde nie vergessen.
    ZDFheute: Was ärgert Sie?
    Müller: Man begegnet immer wieder Leute, die sagen: "Das gibt's doch gar nicht, erzähl mir nichts." Sie wollen es nicht wahrhaben. Oder man bekommt hinterhergeschoben "Du wirst schon irgendwas gemacht haben. Deshalb warst Du dort." Aber selbst wenn ich was gemacht hätte, das was hier passiert ist, das gab's nicht mal im DDR-Knast.
    Das Interview führte Cornelia Schiemenz, Leiterin des ZDF-Landesstudios in Sachsen.
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    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand. Darauf ist der WhatsApp-Channel der ZDFheute zu sehen.
    Quelle: ZDF

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