ZDF in Emden: Jung, bunt - abgehängt? Leben im Brennpunkt

    ZDF in Emden - Reporter vor Ort:Leben im Brennpunkt: Jung, bunt - abgehängt?

    Simon Hrubesch
    von Simon Hrubesch
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    Klinkerhäuser und Hafen: Emden wirkt so, als sei hier die Welt noch "in Ordnung". Dass das nicht immer stimmt, zeigen Besuche in den Vierteln am Stadtrand. Doch es bewegt sich was.

    Ein verlassener Spielplatz in dem Viertel Barenburg in Emden.
    Das Stadtviertel Barenburg in Emden. Für "ZDF in ..." berichtet Reporter Simon Hrubesch einen Monat lang aus der ostfriesischen Stadt.
    Quelle: Simon Hrubesch

    Nur wenige 100 Meter vom Emder Postkartenmotiv, dem pittoresken Delft ("Graben") entfernt, liegt das Viertel Barenburg. Klinkerhäuser stehen hier links und rechts der Straße aneinander - viele der Fenster sind mit Bettbezügen oder Fahnen abgehängt. Ein älterer Mann mit Fahrrad wühlt in einem Müllcontainer. Auf seinem Gepäckträger hat er einen alten Teppich geschnallt, vermutlich hat er ihn in einem anderen Container ergattern können.
    Wie nimmt er das Leben im Viertel wahr? Warum ist er darauf angewiesen, etwas im Müll zu suchen? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Denn der zahnlose ältere Herr spricht kein Deutsch. "Ukraina", sagt er immer wieder und will etwas in seiner Heimatsprache erklären.
    leere Schaufenster
    Wie vielerorts stehen auch in der Stadt Emden zahllose Läden leer. Durch eine veränderte Verkehrspolitik soll das Einkaufen in der Innenstadt wieder attraktiver werden.10.03.2023 | 2:30 min

    "Früher stand hier jede zweite Wohnung leer"

    An einem Einfahrtstor steht "Mehrgenerationenhaus Kulturbunker". Das Gebäude mit einem modernen Glasanbau sticht aus den anderen Klinkerbauten hervor. Durch die Scheiben des Anbaus machen bunte Flyer und Plakate Lust auf das Angebot.
    Davor stehen vier Frauen, eine nickt freundlich. Die vier kommen aus Algerien, Brasilien, der Ukraine und Kroatien und waren gerade bei einem internationalen Frauentreffen. Das Viertel würden sie schon lange kennen.
    Das "Mehrgenerationenhaus Kulturbunker" im Ortsteil Barenburg.
    Das "Mehrgenerationenhaus Kulturbunker" im Ortsteil Barenburg.
    Quelle: ZDF

    Vieles habe sich verbessert in den letzten Jahren, auch wegen der guten Arbeit des Kulturzentrums, die durch Kurse die meisten Menschen abholen würden. Zwei von ihnen arbeiten als Dolmetscherinnen im Auftrag der Stadt und helfen Zugezogenen aus dem Ausland beim Erledigen von Behördengängen. Der Zuzug von Geflüchteten - aus ihrer Sicht ist es für das Viertel ein Segen: "Früher stand hier jede zweite Wohnung leer" - jetzt sei das Viertel viel lebenswerter.
    drehscheibe Deutschland
    Für vier Wochen ist Simon Hrubesch und sein Team in Emden, der größten Stadt Ostfrieslands. Auf der anderen Seite der Ems liegt die Niederlande, mit einem ungeklärtem Grenzverlauf.03.03.2023 | 1:49 min

    Flachdachhäuser und Grundsicherung

    Ein paar Kilometer südlich, nach der Überquerung einiger Kanäle und vorbei an brachliegenden Industrieflächen, liegt ein anderes Viertel: Borssum. Mitten drin steht seit den 1970er Jahren ein Wohnblock von vier- bis achtgeschossigen Flachdachhäusern.
    Etwa 850 Menschen wohnen hier auf kleinstem Raum - und hier im Viertel liegt auch der höchste Anteil an Menschen, die auf staatliche Zahlungen angewiesen sind: Fast jeder Zweite lebt hier vom Bürgergeld, jeder Fünfte ist ohne Arbeit. Mit einem Drittel der Menschen unter 18 ist es ein sehr junges Viertel.
    Erfahren Sie mehr über das Bürgerprojekt ZDF in ...:

    Nachrichten | Thema
    :Bürgerprojekt: ZDF in ...

    Eine Reporterin oder ein Reporter, eine Kamerakollegin oder ein Kamerakollege, vier Wochen vor Ort: Ziel ist es, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Welche Themen bewegen sie?
    ZDF in Schwedt, Journalistin Antje Klingbeil und Kameramann Sacha Seibert am 20.09.23 in Schwedt

    Aufgewachsen in "Wilhelm"

    Dort stehen drei Jungs in Kapuzenpullover und Jogginghose. Wie ist es, hier in der Siedlung zu leben? Ahmed ist 16 und hier in "Wilhelm" aufgewachsen. Er fühlt sich abgehängt. "Die haben uns sowieso vergessen", sagt er und erklärt:

    Manchmal kommt jemand von der Politik und baut irgendwo eine Parkbank hin oder ein Metallgeländer und dann gehen sie wieder und es bleibt alles beim Alten.

    Ahmed, 16 Jahre

    Ruben ist 15, seine Familie ist vor zwei Jahren hierhergezogen. Was er nach der Schule gerne machen möchte? Ein Bauunternehmen gründen. Er hat Mist gebaut auf seiner Schule, vielleicht muss er zwei Monate lang aussetzen - dann würde es knapp werden mit seinem bevorstehenden Hauptschulabschluss.

    Zwickmühle Sozialhilfe

    Die Problematik wird an den kommunalen Aufwendungen für Transferzahlungen deutlich: 40 Prozent des Haushalts muss Emden für Transferzahlungen im Bereich Jugend und Soziales aufwenden.
    Die Stadt ist da in einer schwierigen Lage, erklärt der Oberbürgermeister Emdens: Als größte Stadt in der Umgebung zögen viele Menschen aus den ländlicheren Gebieten in die Stadt, in der Hoffnung, hier einen Job zu finden. Nicht immer ist die Suche erfolgreich.
    Vor vier Jahren führte die Stadt ein Sozialmonitoring durch und identifizierte mehrere Viertel, die durch besondere demografische und soziale Herausforderungen gekennzeichnet sind. Hier finanziert die Stadt Stadtteilzentren, die den Zusammenhalt im Viertel steigern und gesellschaftliche Teilhabe sichern sollen.

    Sie haben Tipps und Ideen für Geschichten aus Emden? Welche Themen interessieren Sie, was möchten Sie über Emden erfahren? Schreiben Sie uns: zdfin@zdf.de.

    Zusammenhalt durch Stadtteilzentren

    Oliver van Grieken ist Gemeinwesenarbeiter in einem solchen Zentrum und gleichzeitig Vorsitzender des örtlichen Bürgervereins im Stadtteil Port Arthur/Transvaal. Angelehnt an einen Zaun erklärt er, was das Viertel ausmacht: "Viele Senioren", einige vom ihnen hätten schon Schwierigkeiten, mal zwei Euro für ein Frühstück zu zahlen. Seine Erzählungen über das Viertel unterbricht er immer wieder: "Moin Roswita!", "Moin Bernhard!" grüßt er die Menschen, die mit dem Fahrrad vorbeifahren - der 29-Jährige scheint sie alle zu kennen im Viertel. In einer Whatsapp-Gruppe mit über 600 Mitgliedern informiert er sie, wenn eine Veranstaltung stattfindet.
    Ob in Barenburg, in der Wilhelm-Leuschner-Straße oder in Port Arthur/Transvaal: In Emden wird die Gemeinwesenarbeit durch eine zentrale Stelle in der Stadtverwaltung koordiniert. Und was sagen die Emderinnen und Emdern dazu, die man beim Friseur im Zentrum, oder beim Kulturbunker am Stadtrand trifft? Vieles habe sich in den betreffenden Vierteln zum Positiven geändert, erklären sie.
    Es dauert, aber Zusammenhalt schafft Perspektiven.
    ZDF-Reporter Simon Hrubesch und Kameramann und Cutter Thomas Henke sind für #ZDFin unterwegs in Emden.
    ZDF-Reporter Simon Hrubesch und Kameramann und Cutter Thomas Henke sind für #ZDFin unterwegs in Emden.
    Quelle: ZDF/Roman Pawlowski

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