Protokolle: So haben Menschen das Erdbeben erlebt

    Erdbeben-Betroffene berichten:"Jede kleine Bewegung erschreckt mich"

    Narin Sevin Dogan
    von Narîn Şevîn Doğan
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    Sofort helfen, Menschen retten, da sein. Drei Menschen berichten, wie sie das Erdbeben in der Türkei getroffen hat und wie sie damit umgehen.

    Frau sucht nach Habseligkeiten in den Trümmern ihres Wohnblocks in Kahramanmaras, TürkeiSehriban Düzce hilft bei den Bergungsarbeiten im türkischen Dorf Ördekdede Köyü. Dort starben insgesamt 32 Menschen. Auch sie hat Familienmitglieder verloren.
    Trümmer, Zerstörung, unzählige Todesopfer: Das Erdbeben hat in der Türkei und Syrien enorme Schäden verursacht. Betroffene berichten über das Leid der Katastrophe. 11.02.2023 | 2:40 min

    "Ich werde diesen Blick nie vergessen" - Sehriban, 37, Kita-Erzieherin in Wesel

    Einen Tag vor dem Erdbeben bin ich in die Türkei gereist. Ich wollte dort Verwandte besuchen, shoppen und ein bisschen abschalten. Ich bin gemeinsam mit meinem Vater und meiner Schwägerin nach Antep geflogen. Dort sind wir über Nacht geblieben und wurden vom Erdbeben geweckt. Ich habe meinen Vater und meine Schwägerin in Schutz gebracht.

    Ich selbst stand mitten im Raum wie bestellt und nicht abgeholt.

    Sehriban

    Als das erste große Beben vorbei war, schlüpften wir in unsere Schuhe, zogen unsere Jacken an und gingen raus. Und dann bekamen wir einen Anruf aus dem Dorf: "Freunde, helft uns, helft uns. Ördekdede Köyü in Pazarcık ist weg." Wir sind so schnell es ging losgefahren. Als wir im Dorf ankamen, sahen wir, dass fast alle Häuser eingestürzt waren. Die Dorfbewohner*innen versuchten mit bloßen Händen, Menschen aus den Trümmern zu befreien. Man hörte Rufe und Schreie. Wir haben versucht zu verstehen, was los war.
    Sehriban
    Sehriban
    Quelle: ZDF/Sehriban

    Mir begegneten an jeder Ecke hilflose Menschen. Ein Großcousin von mir saß verängstigt unter einem Anhänger. Er erzählte weinend, dass er sich in letzter Minute nach draußen stürzte, als die Erde bebte und das Haus einstürzte. Seine Eltern und Schwester seien im Haus. Er sah nicht gut aus und konnte nicht laufen. Ich sagte ihm, er müsse zu einem Arzt. Er lehnte ab und wollte auf seine Eltern warten. Ich sah die Verzweiflung und Angst in seinen Augen ... Ich habe seine Hand gehalten und fragte ihn: "Um wen sollen sich die Menschen kümmern? Um dich oder um deine Eltern?" Ich werde diesen Blick nie vergessen … so leer, beängstigt und hilflos. Er hat kein Ton mehr von sich gegeben. Ich sagte der nächsten Person, dass sie ihn ins Krankenhaus bringen sollen.
    Es sind 32 Menschen in unserem Dorf gestorben, die wir nach einigen Tagen begraben konnten. Ich bin jetzt wieder zu Hause in Deutschland.

    Ich habe meine Liebsten fester gedrückt denn je.

    Sehriban

    Alle sagen "Das Leben geht weiter." Ich frage mich, ob dieser Satz für viele Menschen noch Sinn macht. Die Sozialen Medien werden immer wieder eingeschränkt, trotzdem organisiere ich Hilfe für die Menschen dort. Dieses Erlebnis hat mich verändert. Jede kleine Bewegung erschreckt mich. Wahrscheinlich wird mich das noch eine ganze Weile begleiten.

    "Wir waren angespannt, verzweifelt" - Bêrîvan, 30, Berufsschullehrerin in Nürnberg

    Ich wache morgens immer um 5:30 Uhr auf, weil die Schule, an der ich unterrichte, weit weg ist. Um 6 Uhr am 6. Februar erhielt ich eine Nachricht einer Freundin, die mir vom Erdbeben berichtete. Ich habe einen starken Draht zu unseren kurdischen und alevitischen Wurzeln und mir ist es wichtig, dass ich auch meine zweite Heimat jährlich besuche. Deshalb war ich direkt nervös und in Sorge, als ich vom Erdbeben hörte. Das Heimatdorf meiner Eltern liegt in der Nähe der Stadt Elbistan. Wir haben Verwandte dort. Deshalb habe ich meine Oma geweckt und sie darum gebeten, ihre Schwester anzurufen. Oma telefonierte mit ihr und ich hörte, dass das Erdbeben schlimm gewesen und sie durchgefroren sei. Als ich wusste, dass sie in Ordnung ist, ging ich in die Arbeit.
    Bêrîvan, Berufsschullehrerin in Nürnberg (30) „Wir waren angespannt, verzweifelt.“
    Bêrîvan
    Quelle: ZDF

    Dann kam das zweite Beben. Und es traf meine 36-jährige Cousine und ihren 12-jährigen Sohn, die unter den Trümmern lagen. Weil so lange keine Hilfe kam, versuchten mein Onkel und andere Verwandte eigenständig unter Schock Menschen zu bergen. So schlimm es klingt: "Wir haben die Alten in Kauf genommen, damit meine junge Cousine und ihr Sohn gerettet werden können."
    Vier Personen konnten sie so tatsächlich retten. In unserer Familiengruppe auf WhatsApp mit 70 Leuten tauschten wir uns aus. Dann 1,5 Tage Funkstille.

    Alle warteten, alle hatten Angst zu fragen, weil keiner die Antwort hören wollte.

    Bêrîvan

    Das Warten ging von Montag 11 Uhr bis Samstag 16:50 Uhr. Es fühlte sich wie ein Ewigkeit an. Alle beschwerten sich über Muskelkater. Wir waren angespannt, verzweifelt. Dann die Nachricht: Für meine Cousine und ihren Sohn kam jede Hilfe zu spät. Am sechsten Tag wurden sie letztendlich leblos geborgen.

    Seitdem fühle ich mich leer, nervös und ängstlich.

    Bêrîvan

    Ich versuche mir keine Nachrichten mehr anzusehen. So, als ob die Katastrophe mit dem Fund meiner Cousine und ihres Sohns beendet wurde. Wie unsere Familie, die nach der Beerdigung ihrer Angehörigen den Ort verlassen hat und erstmal nicht zurückblickt.
    Menschen umarmen sich weinend vor Sorgen. Im Hintergrund sind Trümmer zu sehen.
    Es sind alptraumhafte Stunden und Tage, die die Menschen in den Katastrophengebieten erlebt haben. 13.02.2023 | 3:59 min

    "Ich versuche handlungsfähig und für meine Hinterbliebenen stark zu bleiben" - Sema, 28, Kita-Erzieherin in Zürich

    Als ich vom Erdbeben erfuhr, wollte ich so schnell wie möglich meine Verwandten vor Ort erreichen. Sie leben in der Provinz Pazarcık, die schwer vom Erdbeben getroffen wurde.

    Wir haben viele Verwandte verloren.

    Sema

    Auch meine Tante, der ich sehr nahestand.
    Ich konnte es erstmal nicht realisieren, weil es so viele waren, die wir nicht erreichen konnten, weil sie beim Erdbeben gestorben sind. Am gleichen Tag sammelte ich mit Freund*innen Hilfsgüter, die wir mit einem Lkw in die Türkei senden wollten. Das reichte mir nicht. Deshalb entschied ich mich, hinzufliegen und vor Ort direkt meine Familienmitglieder und die lokale Bevölkerung mit Hilfsgütern zu unterstützen.
    Sema, Kita-Erzieherin in Zürich (28)
    Sema (links)
    Quelle: ZDF

    Gemeinsam mit Verwandten plante ich meine Reise in das schwer zugängliche Gebiet. Vor Ort verteilte ich gemeinsam mit meinem Freund Hilfsgüter in den Dörfern der Provinz Pazarcık. Denn an vielen Orten kam nur unzureichend Hilfe an. Es waren nur freiwillige Helfer*innen da.
    Regionen, in denen mehrheitlich Kurden und Kurdinnen mit alevitischem Background leben, wurden schleppend und teilweise widerwillig mit dringend notwendigen Hilfsgütern unterstützt. Für uns spielte bei der Hilfe die Ethnizität keine Rolle. Wir versuchten alle Menschen gleich zu behandeln, unabhängig von ethnischer oder religiöser Herkunft. Jetzt bin ich wieder zurück in Zürich und arbeite.

    Ich versuche handlungsfähig und für meine Hinterbliebenen stark zu bleiben.

    Sema

    Zusammen mit Freund*innen und Verwandten planen wir langfristige Projekte, um den Menschen vor Ort zu helfen. Das schenkt mir in dieser schwierigen Zeit Kraft und Hoffnung.

    Service
    :Spendenaufruf für Marokko

    Nach dem schweren Erdbeben in Marokko werden mehrere Tausend Tote gezählt. Internationale Hilfe läuft an. Auch deutsche Rettungsteams bereiten sich auf den Einsatz vor.
    Marokko, Marakesch: Eine Frau steht vor zerstörten Häusern.

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