Holocaust-Überlebende: Wie sie Auschwitz überlebte

    Interview

    Holocaust-Überlebende berichtet:"Auf den Pritschen saßen kleine Skelette"

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    Kein anderes Kind überlebte in Auschwitz so lang wie Lidia Maksymowicz. Hier erzählt Maksymowicz, wie sie als Kleinkind Grausames durchstand - und dennoch keinen Hass verspürt.

    Holocaust-Überlebende Lidia Maksymowicz
    Die Holocaust-Überlebende Lidia Maksymowicz im Interview.
    Quelle: ZDF

    Drei Jahre. So alt war Lidia Maksymowicz, als sie zusammen mit ihrer Mutter und ihren Großeltern ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau verschleppt wurde. Schon kurz nach ihrer Ankunft wurden Maksymowicz Großeltern ermordet - so wie insgesamt 1,1 Millionen Menschen allein in diesem Vernichtungslager.
    Maksymowicz selbst überlebte trotz ihres Alters 13 Monate im Lager, so lange wie kein anderes Kind. Während dieser Zeit musste sie Experimente durch den berüchtigten Lagerarzt Josef Mengele über sich ergehen lassen und überstand Monate voll Hunger und Qualen. Maksymowicz ist inzwischen 82 Jahre alt und lebt in Krakau.
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    ZDFheute: Erinnern Sie sich noch an Ihre Ankunft in Auschwitz-Birkenau?
    Lidia Maksymowicz: Man denkt immer, dass Kinder sich an nichts erinnern, aber diese Erfahrung hat sich mir eingeprägt. Mehrere Tage lang wurden wir unter schrecklichen Bedingungen hertransportiert. Es war Dezember 1943, ein strenger Winter. Als sich die Waggontüren öffneten, hatten wir keine Ahnung, wo wir waren. SS-Männer mit Gewehren standen vor uns, gaben uns Befehle in einer Sprache, die wir nicht verstanden, Hunde kläfften.
    Ich erinnere mich auch an den Moment, als ich zum ersten Mal in der Baracke stand. Auf den Pritschen lagen Stroh und Decken, die steif vor Schmutz waren und voller Ungeziefer. Darauf saßen kleine Skelette.

    Holocaust-Überlebende Lidia Maksymowicz
    Quelle: ZDF

    ... wurde 1940 als Ludmiła Boczarowa in Belarus geboren. Als Dreijährige wurde sie mit ihrer Familie aufgrund der vermuteten Nähe zu Partisanen ins Konzentrationslager Auschwitz verschleppt. Maksymowicz überlebte, wurde von einer polnischen Familie adoptiert und nahm den Namen ihrer Adoptiveltern an. Ihre leibliche Mutter, die sie lange für tot hielt, sah sie erst 1962 wieder.  

    ZDFheute: Sie landeten in der sogenannten Kinderbaracke.
    Maksymowicz: Gesündere Kinder wie ich kamen in diese Baracke, weil wir für Versuche herhalten sollten. Ich habe die anderen Kinder beobachtet und versteckte mich deshalb unter den Schlafpritschen, sobald das Team von Doktor Mengele kam. Trotzdem holten sie uns.
    Die glänzenden Offiziersstiefel und weißen Kittel sehe ich heute noch vor mir. Aus den Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass sie in die Kinderbaracke kam und ich dort im Fieber lag, ausgemergelt und erschöpft von den Impfstoff-Versuchen der deutschen Pharmafirmen.
    ZDFheute: Wie hielten Sie so lange durch?
    Maksymowicz: Meine Mutter riskierte ihr Leben für mich, ihr verdanke ich es, dass ich es schaffte. Sie sagte immer: "Ich lebe wegen dir und du lebst wegen mir." Bei Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers fanden die Frauen manchmal eine Kartoffel, ein Stück Brot oder eine Zwiebel.
    In der Abenddämmerung schlich meine Mutter heimlich zur Kinderbaracke und fütterte mich mit dem Essen, das sie ergattert hatte. Ich verschlang alles. Ich erinnere mich nicht mehr an ihr Gesicht, ich erinnere mich nur an diese Hände mit dem Essen.
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    ZDFheute: Wie haben Sie die Befreiung im Januar 1945 erlebt?
    Maksymowicz: Ich erinnere mich noch an den Moment, als die Soldaten der Roten Armee das Lager betraten. Nicht wegen der Freude über die Befreiung, sondern weil sie uns eine Tasse Kaffee mit Milch und ein Stück Brot mit Margarine gaben - der Geschmack war überwältigend.
    ZDFheute: Und dann?
    Maksymowicz: Die Leute aus der Gegend nahmen uns bei sich auf. Es war ein Schock für mich, ein normales Zimmer zu sehen, ein Bett mit Laken und ein Bad. Das alles machte mir Angst. Der Arzt besuchte mich jeden Tag, weil ich Tuberkulose hatte, Blutarmut, mein Körper mit Abszessen übersät war und ich ständig Bauchschmerzen und Durchfall hatte.
    Monatelang ging ich nicht nach draußen. Was blieb, war das KZ-Syndrom. Ich ließ meine Freunde zum Appell antreten und spielte die Selektion nach. Und weil mir menschliche Gefühle vorenthalten worden waren, wehrte ich mich gegen Zärtlichkeiten und Umarmungen. Das ist bis ins hohe Alter so geblieben.
    ZDFheute: Wie denken Sie heute über Deutschland?
    Maksymowicz: Wenn ich nur Hass und den Wunsch nach Rache hätte, könnte ich nicht normal leben. Meine Memoiren tragen deswegen als Titel auch mein Lebensmotto: "Das Mädchen, das nicht hassen konnte". Ich war zu jung, um zu erkennen, wie viel Böses mir angetan wurde.
    Das Interview führten Natalie Steger und Lukasz Walewski.
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