Großbritannien: Postmitarbeiter zu Unrecht im Gefängnis

    Skandal in Großbritannien :Postmitarbeiter zu Unrecht im Gefängnis

    von Wolf-Christian Ulrich, London
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    Wenn Richtern der Software glauben - und nicht den Menschen: Ein riesiger Post-Skandal wühlt derzeit Großbritannien auf. Nun hat die damalige Chefin des Post-Office ausgesagt.

    Der größte Irrtum in der britischen Justiz
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    Als Paula Vennells, die ehemalige Chefin der Post, zur Anhörung vor der Untersuchungskommission erscheint, braucht sie Polizeischutz, so groß ist die Aufmerksamkeit. Wird sie gestehen, von der fehlerhaften Software gewusst zu haben, wegen der Hunderte britische Postmitarbeiter zu Unrecht im Knast saßen? Nein, beteuert sie später in der Anhörung - sie sei zu leichtgläubig gewesen, so die hochbezahlte Managerin unter Tränen.

    Ich akzeptiere heute, dass die Post das wusste. Aber ich selbst wusste es nicht.

    Paula Vennells, Post-Office Chefin von 2012-2019

    Auch Opfer des Post-Skandals sind bei der Anhörung vor Ort: Die Post-Angestellte Seema Misra saß unschuldig im Gefängnis. "Wir wollen die Wahrheit," sagt sie dem ZDF. "Gut, dass es jetzt endlich in diese Richtung geht."

    Verurteilt für einen Diebstahl, den sie gar nicht begangen hatte

    Fehlerhafte Computerprogramme hatten in Postfilialen Geld aus der Buchhaltung verschwinden lassen. Doch das schoben die Post und dann die Justiz rund 900 Mitarbeitern in die Schuhe. Sie glaubten der Software - nicht dem Menschen.
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    Seema Misra saß deswegen 15 Monate im Gefängnis - schwanger und suizidgefährdet. Verurteilt für einen Diebstahl, den sie gar nicht begangen hatte. "Als der Richter mich ins Gefängnis schickte, konnte ich es nicht glauben," schildert sie die Situation damals. "Ein scharfer Schmerz ging durch meinen Bauch. Ich wachte im Krankenhaus auf - in Handschellen." Ihr Mann Davinder wurde dreimal im Ort verprügelt: "Die Lokalzeitung hatte mich als eine schwangere Diebin dargestellt, die Rentner betrogen hätte," berichtet Seema Misra.

    Vorwürfe der Vertuschung durch Post und Softwarehersteller

    Opfer und Öffentlichkeit sind entsetzt - vor allem, weil die Post und der Softwarehersteller Fujitsu jahrelang ihre Schuld nicht eingestanden und auch dann noch Post-Mitarbeiter als Diebe verfolgt wurden, als die Chefetage längst Hinweise auf die fehlerhafte Software hatten.

    Das war eine große Vertuschung: Von der Post, von Fujitsu und der Regierung. Die Polizei muss jetzt die wahren Übeltäter hinter Gitter bringen.

    Seema Misra, Justiz-Opfer

    Seema Misra hörte erst einen Tag vor ihrem Gerichtstermin, dass es auch andere Fälle im Vereinigten Königreich gibt. Viele verschuldeten sich deswegen, manche verloren ihre Häuser. Viele Postbeamte kamen wegen Diebstahls in Haft. Andere bekannten sich vor Gericht schuldig, um dem Gefängnis zu entgehen. Mindestens vier Betroffene nahmen sich das Leben.
    Blutkonserven hängen an einem Ständer in der Produktionsstätte für Blutprodukte
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    Fernsehfilm macht Post-Skandal öffentlich

    Seema ist froh, als sich Betroffene zu einer Interessengemeinschaft zusammenschließen, um für ihre Rehabilitierung zu kämpfen. Doch es ist erst ein Fernsehfilm, der das Land in diesem Jahr aufrüttelt und schließlich zu einer großen öffentlichen Anhörung führt, die nun seit Monaten das Land in Atem hält.
    Mehr als 900 Postmitarbeiter wurden wie Seema Misra unschuldig verurteilt, verloren ihren Job und ihr Ansehen. Ex-Post-Chefin Vennells, die knapp eine Million Euro im Jahr verdiente, versuchte heute die Schuld dafür ihren Beratern zuzuschieben. Sie bedauere zutiefst, "dass Einzelpersonen, mich eingeschlossen, Fehler gemacht haben, Dinge nicht gesehen und nicht gehört haben", so Vennells.
    Der Post-Skandal ist der größte Justiz-Skandal des Landes und fügt dem Vertrauen der Briten in ihre Regierung und die Justizbehörden nachhaltig Schaden zu.
    Wolf-Christian Ulrich ist Korrespondent im ZDF-Studio London.

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