Darum kommen gerade so viele Menschen nach Italien

    Migration über Tunesien:Darum kommen so viele Menschen nach Italien

    von Alice Pesavento
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    Im Moment kommen besonders viele Menschen von Tunesien aus nach Italien. Warum treten gerade jetzt so viele den gefährlichen Weg über das Mittelmeer an?

    Flüchtlinge auf Boot im Mittelmeer
    Flüchtlinge auf einem Boot im Mittelmeer
    Quelle: dpa

    Auf der italienischen Insel Lampedusa sind in den vergangen Tagen Tausende Geflüchtete angekommen. Ein Großteil von ihnen ist von Tunesien aus gestartet. Die italienische Insel ist nur 190 Kilometer von der Küstenstadt Sfax entfernt, von wo aus besonders viele Boote ablegen.
    Eine Karte mit der italienischen Insel Lampedusa

    Überschneidung von Krisen

    Laut Maurice Stierl, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück, gibt es verschiedene Gründe für die hohe Anzahl von Menschen, die über das Mittelmeer versuchen, nach Europa zu gelangen. Das könne man auch daran erkennen, dass die Menschen, die Lampedusa erreichen, aus sehr unterschiedlichen Regionen der Welt kommen.

    Die Welt steht derzeit vor einer Vielzahl von Krisen, die sich überschneiden, angefangen bei der Klimakatastrophe über Kriege und Konflikte, Armut, Formen von Diskriminierung und Verfolgung.

    Maurice Stierl, Universität Osnabrück

    Diese sich überschneidenden Krisen bezeichne man auch als "Polykrise".

    Migration und Flucht sind mögliche Reaktionen auf diese Polykrise, sie sind nicht die Krise selbst. Solange diese globalen Probleme bestehen, werden Menschen fliehen und solange es keine alternativen sicheren Routen nach Europa gibt, werden Menschen weiterhin bei der Fahrt über das Mittelmeer ihr Leben riskieren.

    Maurice Stierl, Migrationsforscher

    Flüchtlinge auf der Insel Lampedusan (Italien), aufgenommen am 18.09.2023
    Seit Jahren suchen die Europäer nach Lösungen, um die wachsende Zahl illegaler Migranten einzudämmen. 18.09.2023 | 2:08 min
    Seit einiger Zeit verschiebt sich die Route, über die die meisten Menschen versuchen nach Europa zu gelangen, von Libyen nach Tunesien. Das liegt unter anderem an der katastrophalen Lage von Migranten und Flüchtlingen in Libyen. Menschenrechtsorganisationen und Betroffene dokumentieren zudem immer wieder Menschenrechtsverletzungen, die die libysche und auch die tunesische Küstenwache begehen. Beide Küstenwachen wurden unter anderem von der EU und einzelnen Mitgliedsstaaten wie Deutschland und Italien trainiert und ausgestattet.

    Angespannte Situation innerhalb von Tunesien

    Auch die Situation innerhalb Tunesiens sorgt dafür, dass immer mehr Menschen das Land so schnell wie möglich verlassen wollen. Das gilt vor allem für die Zehntausenden im Land lebenden Menschen aus Ländern südlich der Sahara.
    Ende Februar veröffentlichte der tunesische Präsident Kais Saied ein Statement auf Facebook, in dem er behauptete, "Horden illegaler Migranten" würden nach Tunesien strömen, mit dem Ziel, "die demografische Zusammensetzung des Landes zu verändern" und seine arabisch-muslimische Identität zu zerstören. Damit löste er eine Welle der Gewalt gegen Migranten in Tunesien aus. Viele von ihnen wurden auf offener Straße angegriffen, beschimpft oder gewaltsam aus ihren Wohnungen vertrieben.
    Zwar versuchten Teile der tunesischen Bevölkerung den Betroffenen zu helfen, aber vor allem gegen die tunesischen Sicherheitskräfte konnten auch sie nichts ausrichten. Die begannen Anfang Juli, ohne rechtliche Verfahren oder Vorankündigungen Hunderte Migranten in die Wüste hinter die Grenzen zu Libyen und Algerien abzuschieben. Einige von ihnen verdursteten - unter ihnen die sechsjährige Marie und ihre Mutter Fati Dosso, die tot im Sand liegend fotografiert wurden und dessen Foto für eine Welle der Empörung in Tunesien und Libyen sorgte.
    Laut Monica Marks, Assistenzprofessorin für Nahostpolitik an der New York University in Abu Dhabi, wollten nach diesen Ereignissen viele der in Tunesien lebenden Migranten das Land so schnell wie möglich verlassen. Da es für sie aus verschiedenen Gründen oftmals nicht möglich sei, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, sähen sie oft nur einen Ausweg: Über das Mittelmeer weiter nach Europa.

    Keine Einreise für EU-Delegation
    :Tunesien, Europas zwielichtiger Partner

    Eine Delegation des EU-Parlaments wollte nach Tunesien reisen. Doch die dortige Regierung lässt die Abgeordneten nicht ins Land. "Ein Skandal ohnegleichen", schimpft die SPD.
    von Florian Neuhann
    Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Tunis

    Umstrittener EU-Deal mit Tunesien

    Unterdessen kooperiert die EU weiter mit Tunesien. Fast zeitgleich mit den Abschiebungen in die Wüste, verkündeten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der damalige niederländische Ministerpräsident Mark Rutte und die italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni gemeinsam mit Präsident Kais Saied die Unterzeichnung einer Partnerschaftsvereinbarung in Tunis. Darin werden Tunesien insgesamt 900 Millionen Euro Unterstützung von der EU versprochen, wovon 100 Millionen Euro für "Grenzmanagement" bestimmt sein sollen.
    Beobachter vermuten jetzt eine Art Torschlusseffekt als Reaktion auf den Tunesien-Deal: Flüchtlinge und Schlepper bemühen sich möglicherweise in diesen Wochen, so schnell wie möglich nach Europa zu gelangen, bevor der Deal greift. Monica Marks und andere Beobachter kritisieren das Abkommen. Die EU würde dadurch "die rassistische Gewalt und den brutalen Faschismus" der tunesischen Regierung teilweise mitfinanzieren, so Marks.

    Expertin macht EU für Gewalt mitverantwortlich

    Der Migrationsforscher Gerald Knaus sagte dem ZDF vor einigen Tagen:

    Die Einigung mit Tunesien ist vage, lang, voller Versprechen, unkonkret und es ist überhaupt nicht klar, was Tunesien eigentlich machen sollte und es ist auch nicht klar, was die EU Tunesien wirklich verspricht.

    Gerald Knaus, Migrationsforscher

    Sophie-Anne Bisiaux, Migrationsforscherin und Mitglied des Netzwerks "Migreurop", macht die EU für die Gewalt, die viele Menschen aus Ländern südlich der Sahara seit einigen Monaten in Tunesien erleben, mitverantwortlich:

    Die Verschlechterung der Lage hängt auch mit dem Druck der Europäischen Union auf Tunesien zusammen, eine Art Küstenwache und Grenzschutz für Europa zu werden.

    Sophie-Anne Bisiaux, Migrationsforscherin und Mitglied des Netzwerks "Migreurop"

    Außerdem seien unter den Menschen, die das Mittelmeer von Tunesien aus überqueren auch viele Einheimische. "Die Situation in Tunesien ist sehr, sehr schwierig. Das Land ist bankrott, viele Menschen haben keinen Zugang zu grundlegenden Gütern wie Mehl, Eiern, Milch und Zucker", sagt Bisiaux. In Tunesien gebe es zudem eine zunehmende politische Unterdrückung, zivilgesellschaftliche Organisationen würden kriminalisiert und Journalisten verfolgt.

    Gutes Wetter auch Grund für hohe Flüchtlingszahlen

    Ein weiterer Grund für die hohe Zahl an Menschen, die in diesen Tagen in Italien ankommen, seien die Wetterbedingungen, so Maurice Stierl.

    Wenn wir gutes Wetter haben, kommen die Boote. Denn den Menschen ist auch bewusst, dass diese guten Wetterperioden in den nächsten Monaten kürzer werden.

    Maurice Stierl, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück

    Dass ausgerechnet auf Lampedusa gerade ein so großer Teil - nämlich etwa zwei Drittel - der Menschen, die über die Mittelmeerroute Italien erreichen, ankommen, sei laut Stierl auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass die italienische Küstenwache anders als früher Menschen oftmals erst kurz vor der eigenen Küste rette.

    Vor einigen Jahren wurden die Menschen nach ihrer Rettung auf hoher See durch EU-Missionen oder die italienische Küstenwache direkt nach Sizilien gebracht. Heute erreichen mehr Boote Lampedusa eigenständig.

    Maurice Stierl, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück

    Quelle: mit Material von dpa

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