Karlsruhe verhandelt über Wiederaufnahme von Strafverfahren

    Bundesverfassungsgericht:Kann ein Freispruch bald aufgehoben werden?

    von Christoph Schneider
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    Soll bei neuen Beweisen eine Wiederaufnahme von Strafprozessen möglich sein? Darüber verhandelt das Bundesverfassungsgericht - eine Entscheidung soll noch dieses Jahr fallen.

     Die Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Thomas Offenloch (v.l), Christine Langenfeld, Sibylle Kessal-Wulf, Astrid Wallrabenstein, Doris König (Vorsitzende), Peter Müller, Ulrich Maidowski und Rhona Fetzer, sitzen bei einer mündlichen Verhandlung im Gerichtssaal auf der Richterbank.
    Das Bundesverfassungsgericht diskutiert seit heute eine grundsätzliche Frage: Muss ein Freispruch in einem Mordprozess ein Freispruch bleiben?24.05.2023 | 1:34 min
    "Wir habe wieder einmal volles Haus", begrüßte die Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts und Senatsvorsitzende Doris König die zahlreichen Besucherinnen und Besucher. In der Tat - so voll wie bei dieser mündlichen Verhandlung war es auf den Besucherreihen des höchsten deutschen Gerichts im Karlsruher Schlossbezirk lange nicht mehr.
    Das Thema bewegt und wird emotional diskutiert: Kann denn jemand für dieselbe Tat mehrfach vor Gericht gestellt werden? Eine heftig umstrittene Frage, die hierzulande lange eindeutig beantwortet wurde: Nein, das geht nicht. Im Grundgesetz gibt es den Artikel 103, Absatz 3, der klar regelt:

    Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrfach bestraft werden.

    Grundgesetz, Artikel 103, Absatz 3

    Grundsatz: Der Staat hat einen Versuch frei, einen Straftäter zu überführen - gelingt der nicht und steht am Ende ein rechtskräftiger Freispruch, dann steht der - basta. Ein für allemal.

    Wiederaufnahme Strafprozesse
    :BVerfG: Neuer Beweis - neues Verfahren?

    Liegen neue Beweise vor, kann seit einer Neuregelung 2021 ein Strafverfahren wieder aufgenommen werden. Doch die Änderung ist umstritten - das Bundesverfassungsgericht verhandelt.
    von Laura Kress
    Hans von Möhlmann hält am 20.05.2015 in Hannover (Niedersachsen) ein Foto seiner 1981 ermordeten Tochter Frederike in den Händen
    mit Video

    GroKo entschied sich 2021 für Gesetzesänderung

    Doch was ist, wenn neue, bisher noch nicht erkannte Beweise auftreten, sich auch Ermittlungsmethoden verbessern? Kann, ja muss dann nicht der Staat erneut einen auch schon einst rechtskräftig Freigesprochenen wieder anklagen können?
    Die große Koalition aus CDU, CSU und SPD entschied sich 2021 für eine Gesetzesänderung, die bei nicht verjährenden Delikten wie Mord eine Wiederaufnahme auch zu Ungunsten des ehemals Angeklagten ermöglichten.

    Fall "Frederike" könnte erneut vor Gericht kommen

    Die ist nun Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde. Denn der einst Freigesprochene im Fall "Frederike" - die Beweise reichten Anfang der 1980er-Jahre nicht aus - sieht sich aufgrund der Gesetzesänderung neuer Strafverfolgung ausgesetzt, legte Verfassungsbeschwerde ein. Für ihn erklärte sein Anwalt, Johann Schwenn, dass er die Regelung für verfassungswidrig halte.
    Die Menschen sollten nicht mit dem Risiko eines "falschen Freispruchs" leben müssen. Möglicherweise könnte auch das Gewaltmonopol des Staates angezweifelt werden, ergänzte sein Kollege Yves Georg.
    Persönlich wurde es, als der langjährige Anwalt des Vaters der getöteten Frederike, Wolfram Schädler, persönliche Worte seiner Mandantin - die ältere Schwester von Frederike - an das Gericht richtetet: "Der tiefe Schmerz ist nicht weniger geworden", ließ sie den Zweiten Senat wissen. Und: "Der Kampf um Gerechtigkeit verjährt nicht."
    Vater Hans von Möhlmann war es, der die Gesetzesänderung mit einer Petition im Internet über Jahre vorantrieb. Im vergangenen Sommer verstarb er. Für ihn kämpft Frederikes ältere Schwester mit Anwalt Schädler vor Gericht weiter.

    Neuregelung verfassungskonform?

    Vizepräsidentin König machte aber auch deutlich: So schmerzhaft die Tat für die Angehörigen des Opfers noch immer sei, so sehr sie auch die Öffentlichkeit nach wie vor bewege, so müsse sie angesichts davon losgelöster verfassungsrechtlicher Fragen in den Hintergrund treten.
    Ob die Regelung verfassungskonform ist, wird ausführlich diskutiert. Dabei ergänzen sich die Prozessvertreter der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD, Michael Kubiciel und Elisa Hoven, die die Neuregelung, die nur auf absolute Ausnahmen beschränkt sei, für verfassungsgemäß halten.

    Entscheidung in zweiter Jahreshälfte erwartet

    Demgegenüber stellt Erol Pohlreich als Vertreter der Bundestagsfraktionen von
    Grünen
    und FDP auf den hohen Preis für die Betroffenen ab, die sich wieder einem Strafprozess stellen müssten, den sie schon einmal durchlaufen hätten - Ausgang offen. "Dieser Preis ist zu hoch", so Pohlreich. Eher müsse man damit leben, neun Schuldige davonkommen zu lassen, als einen Unschuldigen noch einmal vor Gericht zu stellen.
    Die Verhandlung dauerte den ganzen Tag über, der Ausgang nach vielen Rückfragen aller acht Richterinnen und Richter, offen. Mit einer Entscheidung wird in der zweiten Jahreshälfte gerechnet.
    Christoph Schneider ist Redakteur in der ZDF-Redaktion Recht & Justiz

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