Warum das Gesundheitssystem noch auf dem Holzweg ist

    Gesundheitswesen:System ist "gefährlich unterdigitalisiert"

    Britta Spiekermann
    von Britta Spiekermann
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    Es haperte jahrzehntelang an allem: Datenschutz, Technik, Willen und Kompetenz. Jetzt sollen sowohl das E-Rezept als auch die elektronische Patientenakte verbindlich kommen.

    Ein Arzt in Berlin arbeitet an einem Bildschirm auf dem eine elektronische Patientenakte zu sehen ist.
    Der Bundestag berät über neue Regelungen für die elektronische Patientenakte. Sie war bislang freiwillig, künftig soll ein Opt-Out-Modell gelten.09.11.2023 | 2:32 min
    Beginnen wir mit einer Reise in die Vergangenheit. Schon 2003 will die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt das "E-Rezept" und die elektronische Gesundheitskarte einführen. Ihr engster Berater ist damals ein Gesundheitsökonom aus Köln: Karl Lauterbach (SPD).
    Die Datenschutzbedenken sind groß. Die Jahre gehen ins Land, andere Länder ziehen digital an und vorbei. Jetzt will Lauterbach, als Nach-Nach-Nach-Nach-Folger von Ulla Schmidt, den "Turbo" zünden.

    Analoges Versagen in digitalen Zeiten

    Im Juni 2023 erklärt Lauterbach:

    Ich hätte niemals gedacht, dass unser System so träge ist, dass ich 20 Jahre später meine eigene Reform umsetze.

    Karl Lauterbach, Bundesgesundheitsminister

    Es ist Koketterie, will Lauterbach doch auch darauf hinweisen, wie weitsichtig er schon vor 20 Jahren war. Es ist vor allem ein großes Versagen. Fast nichts bewegte sich seit 2003 und dieses "fast Nichts" kostete bis heute Milliarden.
    2005 wurde eigens für die digitale Zukunft im Gesundheitswesen die "Gematik" gegründet - den wenigsten dürfte dieser Name ein Begriff sein. Jahrelang lief die selbstgenannte "Nationale Agentur für Digitale Medizin" mit 360 Mitarbeitenden unter dem Radar - finanziert im Wesentlichen von Beitragszahlern - ohne nennenswerten Erfolg. E-Rezept und elektronische Patientenakte blieben Etiketten ohne digitalen Inhalt.

    Digitalisierung hochsensibler Daten

    Nun also der von Lauterbach angekündigte Turbo, den der Bundesdatenschutzbeauftragte zwar nicht ausbremsen will, aber Ulrich Kelber fordert mehr Präzision, wie er ZDFheute sagt:

    Der Gesundheitssektor in Deutschland ist gefährlich unterdigitalisiert und alle würden davon profitieren, wenn wir gut gemachte digitale Versorgung bekommen.

    Ulrich Kelber, Bundesdatenschutzbeauftragter

    Die Regelungen müssten rechtskonform sein, sonst gäbe es vermutlich Klagen bis hin zum Bundesverfassungsgericht, so Kelber.
    Hat das E-Rezept inzwischen viele Hürden genommen - Datenschutzbedenken, abgebrochene Pilotprojekte, Protest von Ärzten und Apothekern - liegt der Fall bei der elektronischen Patientenakte (ePA) anders, weil noch viel komplizierter. Heute nutzt sie nur ein Prozent der Bevölkerung. 2025 soll die Patientenakte dann für alle gesetzlich Versicherten kommen. Darauf gespeichert: zum Beispiel Medikationspläne, Laborbefunde, Röntgenbilder. Es gibt viele Fragezeichen.

    Ab Januar verpflichtend
    :Wie das E-Rezept funktioniert

    Ab Januar 2024 ist das E-Rezept für Arztpraxen verpflichtend. Was Patienten jetzt über das neue Verfahren wissen müssen.
    Elektronische Gesundheitskarte, Symbolbild
    FAQ

    Wer hat Zugriff auf Gesundheitsdaten?

    Aufgabe des Bundesdatenschutzbeauftragten ist es, diese Fragezeichen mit Nachdruck in den Raum zu stellen. Da wären etwa die Gesundheitsdaten, von denen vielleicht niemand etwas wissen soll: Schwangerschaftsabbruch, eine psychische Erkrankung oder eine HIV-Infektion.
    Nach jetzigem Stand sollen Patienten die Speicherung ausschließen können. Auf der Seite stehen die Vorteile: Doppeluntersuchungen könnten vermieden werden, der eine Arzt weiß, was der andere tut. Und der Patient könnte selbst in seine Akte schauen.
    Doch es geht nicht nur um die Daten jedes Einzelnen, sondern um die aller Versicherten. Diese sollen pseudonymisiert gespeichert werden, es sei denn, man widerspricht. Geplant ist, dass Forschung und auch Pharmaindustrie Nutzungsanträge stellen können, um künftig etwa bessere Therapien zu entwickeln.

    Gratwanderung zwischen Datenschutz und Datennutzung

    Der Bundesdatenschutzbeauftragte fordert hohe Sicherheitsstandards. Massive Datenlecks gab es bereits im britischen Gesundheitssystem, in Norwegen und in Australien. Millionen Gesundheitsdaten flossen ab.
    Lauterbach will für Deutschland das "modernste Datengesetz" samt "supersicherer Verschlüsselung". Er nutzt in jüngster Zeit auffallend oft Superlative, wohl um Skeptiker zu überzeugen und zu beruhigen.
    Gleich zwei Digitalgesetze sind jetzt auf dem parlamentarischen Weg. Im Kern geht es um die Abwägung zwischen Datennutzen und Datenschutz. Zum Tragen kommt besonders die informationelle Selbstbestimmung, wonach jeder selbst darüber entscheiden kann, welche personenbezogenen Daten er von sich preisgeben möchte und wer sie verwenden darf.

    Kommt der "Digital-Turbo"?

    Beenden wir die Geschichte mit einem Besuch im Unfallkrankenhaus Berlin. Modern, digitalisiert. Die elektronische Patientenakte gibt es hier sozusagen für den internen Gebrauch. Ob Chirurg, Pfleger oder Physiotherapeut: alle wissen, was der andere tut. Doch die Vernetzung bricht ab, wenn Notärzte wie Konrad von Kottwitz zum Einsatz kommen.
    Er hat einen Zukunftstraum:

    Dass ich, wenn ich den Alarm kriege, in den Notarztwagen oder den Hubschrauber steige, auf mein Tablet gucke und bereits da Informationen über den Patienten habe.

    Konrad von Kottwitz, Notarzt

    In den meisten europäischen Ländern ist das Standard, in Deutschland immer noch Zukunftsmusik. Und das 20 Jahre nach Ulla Schmidt und ihrem Berater, einem Gesundheitsökonom aus Köln, Karl Lauterbach, der jetzt den Turbo zünden will.

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