Behinderung: Wie kann Inklusion besser gelingen?

    Menschen mit Behinderung:Wie kann Inklusion besser gelingen?

    von Alice Pesavento
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    Menschen mit Behinderung werden in Deutschland zu oft vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Was kann dagegen getan werden?

    Münchner genießen die Abendsonne am Stachusbrunnen
    Menschen mit Behinderung finden oft nur am Rand der Gesellschaft statt. Dabei sind Inklusion und Teilhabe essenziell.
    Quelle: imago/Wolfgang Maria Weber

    Fast jeder zehnte Mensch in Deutschland hat eine schwere Behinderung. Betroffene werden häufig vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen und in Parallelstrukturen wie Förderschulen und Werkstätten gedrängt. Zu diesem Schluss kommt auch der abschließende Bericht des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Wie kann Inklusion besser gelingen?
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    Mehr Menschenrechtsbildung und Partizipation

    Um Inklusion in allen Bereichen voranzutreiben, brauchen wir in Deutschland mehr Menschenrechtsbildung, fordert Sigrid Arnade, Vorsitzende des Sprecherinnenrats des Deutschen Behindertenrats. "Und zwar von Anfang an altersgemäß in der Kita, über Schule und Fort- und Weiterbildungen", so Arnade. Nur so könne man ein menschenrechtliches Verständnis vom Zusammenleben der Menschen in allen Köpfen verankern.
    In Deutschland gebe es noch immer ein sehr starkes Schubladendenken, was zu mehr Exklusion als Inklusion führe. Die Entwicklung der Inklusion in Deutschland in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten bewertet sie eher negativ: "Es wird nicht besser. Im Moment ist die Tendenz vor allem im Bildungsbereich eher rückläufig".




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    Interview

    Voraussetzungen für Inklusion

    Laut Christian Walter-Klose, Professor für Beratung in sonderpädagogischen und inklusiven Arbeitsfeldern an der Universität zu Köln, gibt es verschiedene Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, damit Inklusion besser gelingen kann.
    So brauche es eine Bereitschaft innerhalb der Gesellschaft, Inklusion auch wirklich zu wollen und die Unterschiedlichkeit der Menschen wertzuschätzen. Außerdem müsse es genügend Möglichkeiten geben, dass Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen in Kontakt treten können, damit Unsicherheiten und Vorurteile abgebaut werden.
    Diese Kontaktmöglichkeiten werden geschaffen, indem Angebote inklusiver gestaltet werden.

    Man sollte nichts planen, ohne die Menschen selbst zu beteiligen. Und dann auch einen Reflektionsprozess etablieren, um nach einer gewissen Zeit zu überprüfen, ob das alles passt.

    Prof. Christian Walter-Klose, Beratung in sonderpädagogischen und inklusiven Arbeitsfeldern, Universität zu Köln

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    Bildung als Schlüssel

    Besonders wichtig ist Inklusion laut Arnade in der Bildung. "Wenn Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen zusammen aufwachsen, mit und ohne Migrationshintergrund, mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Religionen und eben der ganzen Vielfalt, die es so in der Gesellschaft gibt - dann wäre auch das Zusammenleben im Erwachsenenalter sehr viel unkomplizierter", sagt sie.
    Studien zeigen, dass schulische Inklusion zu mehr Toleranz und Hilfsbereitschaft zwischen Schülerinnen und Schülern führt. Im Schuljahr 2020/2021 besuchten jedoch nur weniger als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler in Deutschland mit Förderbedarf eine reguläre Schule. Der Rest ging auf Förderschulen.
    Diese sind Teil der vielen Parallelstrukturen, die es in Deutschland für Menschen mit Behinderungen gibt und zu denen auch spezielle Wohneinrichtungen und Werkstätte zählen. Insgesamt sind mehr als 310.000 Menschen mit Behinderungen in Deutschland in Werkstätten beschäftigt. Sie erhalten einen Lohn, der erheblich unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns liegt.
    Behinderter in einem Rollstuhl verrichtet Montagearbeiten.
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    Parallelstrukturen abbauen

    Laut Walter-Klose reicht es aber nicht, diese spezialisierten Einrichtungen einfach zu schließen. Man müsse parallel auch inklusive Angebote schaffen.

    Solange wir keine Alternativen haben, verlieren Menschen durch das schließen möglicherweise Hilfen, die zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ersetzbar sind.

    Prof. Christian Walter-Klose, Beratung in sonderpädagogischen und inklusiven Arbeitsfeldern, Universität zu Köln

    Um im schulischen Bereich Parallelstrukturen abzubauen, braucht es laut Arnade vor allem mehr Ressourcen, die teilweise bereits frei werden würden, wenn Förderschulen in reguläre Schulen umgewandelt werden würden. "Es müssten mehr Lehrkräfte da sein und die Sonderpädagoginnen und -pädagogen müssen in die Regelschulen, um Teamteaching zu ermöglichen", sagt sie.
    Beim "Teamteaching" führen mehrere Lehrer und Lehrerinnen eine Unterrichtsstunde durch, wodurch eine individuellere Betreuung von allen Schülerinnen und Schülern - nicht nur von jenen mit einer Behinderung - möglich ist.
    Mädchen im Rollstuhl wird von einer Mitschülerin geschoben, während eine andere Mitschülerin sie an der Hand hält
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    Mehr Schutz vor Diskriminierung

    Ein weiterer Hebel für bessere Inklusion wäre ein besserer Schutz von Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierung. "Menschen mit Behinderung werden benachteiligt, allein dadurch, dass es keine durchgängige Barrierefreiheit gibt", so Arnade. Barrierefreiheit sollte dabei im weiteren Sinne bestehen, sagt sie.

    Dafür muss es endlich die Pflicht zur Barrierefreiheit und zu angemessenen Vorkehrungen auch für private Anbieter*innen von Waren und Dienstleistungen geben.

    Sigrid Arnade, Vorsitzende des Sprecherinnenrats des Deutschen Behindertenrats

    So müsse eine Firma, die beispielsweise einen blinden Mitarbeiter beschäftigt, nur seinen Computer mit einer Braillezeile ausstatten und nicht direkt alle Computer in der Firma.

    Seit Gründung der Aktion Mensch im Jahr 1964 stehen die Sozialorganisation und das ZDF gemeinsam für eine Gesellschaft ein, in der das selbstverständliche Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung zum Alltag wird. Die Aktion Mensch ist die größte private Förderorganisation im sozialen Bereich in Deutschland. Seit ihrer Gründung hat sie mehr als fünf Milliarden Euro an soziale Projekte weitergegeben. Ziel der Aktion Mensch ist, die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung, Kindern und Jugendlichen zu verbessern und das selbstverständliche Miteinander in der Gesellschaft zu fördern. Mit den Einnahmen aus ihrer Lotterie unterstützt die Aktion Mensch jeden Monat bis zu 1.000 Projekte für Inklusion in Deutschland.

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