Stünde Deutschland ohne Migration besser da?

    Wirbel um Zuwanderungs-Studie:Stünde Deutschland ohne Migration besser da?

    von Kevin Schubert und Oliver Klein
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    Eine neue Studie soll belegen, dass Migration mehr kostet als sie einbringt - für rechte Kreise ein Beleg für ihre Forderungen nach Abschottung. Der Studienautor sieht das anders.

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    Zuwanderung gegen Fachkräftemangel und demografischen Wandel: Berichte über eine neue Studie sorgen für Aufregung.
    Quelle: dpa

    Im Kampf gegen den Fachkräftemangel und um den Sozialstaat und den Wohlstand aufrechterhalten zu können, braucht Deutschland Zuwanderung - darin sind sich die meisten Experten bisher einig.
    Nun sorgen Berichte über eine neue Studie des Freiburger Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen für Wirbel: Für die Stiftung Marktwirtschaft berechnete der Ökonom verschiedene Szenarien, ob und wie Arbeitsmigration für den deutschen Sozialstaat gewinnbringend ist - unter der Annahme, dass alle Rahmenbedingungen so bleiben, wie sie jetzt sind.
    Raffelhüschens Fazit: "Die fiskalische Bilanz zukünftiger Zuwanderung ist negativ." Im Klartext: Zuwanderung koste Deutschland mehr als sie einbringe. Dabei errechnete der Ökonom in fast allen Szenarien Finanzlücken in Billionenhöhe.
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    In der "Bild"-Zeitung skizzierte Raffelhüschen sogar, was geschähe, "wenn wir ab sofort einen Zaun um Deutschland ziehen", also gar keine Einwanderung mehr zuließen. Auch in diesem Fall hätte Deutschland eine riesige Finanzlücke - die aber fast 6 Billionen Euro niedriger ausfallen würde als mit Zuwanderung.

    AfD sieht Studie als Beleg ihrer Politik

    Die Berichte über Raffelhüschens Studie werden nun unter anderem von AfD-Politikern als Beleg angeführt, dass Zuwanderung für Deutschland ein "sündhaft teures Zuschussgeschäft" sei, wie es der frühere AfD-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus, Georg Pazderski, bei X, dem früheren Twitter, formulierte.

    Die Studie “Ehrbarer Staat? Fokus Migration zur fiskalischen Bilanz der Zuwanderung” untersucht für die Stiftung Marktwirtschaft unter Anwendung der Generationenbilanz, inwieweit Arbeitsmigration die öffentlichen Haushalte in Zukunft entlasten kann.  
     
    Dabei haben die Autoren Bernd Raffelhüschen, Stefan Seuffert und Florian Wimmesberger mehrere Szenarien untersucht - immer unter bestimmten Annahmen, etwa einer Integrationsdauer von sechs Jahren. Daraus ergibt sich, dass Zuwanderung in fast allen Szenarien die sogenannte Nachhaltigkeitslücke verschärft, etwa, weil Migranten durch die unterstellte Integrationsdauer weniger in die Sozialsysteme einzahlen können als die einheimische Bevölkerung. Lediglich unter "optimistischen” Annahmen (Zuwanderer erfüllen mindestens das Qualifikationsmuster der einheimischen Bevölkerung und sind sofort integriert) berechnen Raffelhüschen et al. einen positiven fiskalischen Effekt.  
     
    Daraus schließen die Autoren, dass "die Migrationspolitik zwar von großer Bedeutung für die fiskalische Nachhaltigkeit in Deutschland" ist, "aber nicht dazu geeignet, die Folgen des demografischen Wandels zu kompensieren". Der Hauptgrund dafür sei, dass der deutsche Staat insgesamt nicht nachhaltig aufgestellt sei, "sondern seinen Bürgern mehr Leistungen verspricht als sie über ihren Lebenszyklus finanzieren". Das bedeute, dass selbst eine erfolgreiche Migrationspolitik eine Anpassung der staatlichen Leistungen - insbesondere der altersspezifischen Sozialausgaben - nicht ersetzen kann.

    Auch der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer schreibt, die Studie belege, "was die AfD seit Jahren mahnt: Migration schadet Deutschland wirtschaftlich und in sozialer Hinsicht!"
    Aber lässt die Studie diesen Schluss wirklich zu?

    Studienautor: Wir brauchen Migration

    Der Autor Bernd Raffelhüschen erklärt im Gespräch mit ZDFheute, dass Deutschland sehr wohl Migration brauche:

    Das können wir gar nicht anders. Wir haben ja die letzten 40 Jahre die Kinder, die wir gebraucht hätten, gar nicht gemacht. Insofern haben wir überhaupt keine andere Möglichkeit.

    Bernd Raffelhüschen

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    Er fordert eine Einwanderungspolitik, die auf mindestens durchschnittlich qualifizierte Menschen ausgerichtet ist. "Das ist eine Migration, die uns nützt." Gleichzeitig müsse Deutschland junge Menschen ins Land holen: "Wir können nicht genug Kinder bekommen aus dem Ausland - je mehr, desto besser, und welche Haut- oder Haarfarbe die haben, sollte uns egal sein. Das ist das Wesen von vernünftiger Migration, und so sollte man die entsprechend gesetzlich verankern."

    Studie wird falsch interpretiert

    Die Kernaussage der Studie ist also nicht, dass Zuwanderung nach Deutschland gestoppt werden müsse - sondern, dass Deutschland langfristig durch zu hohe Sozialausgaben und den demografischen Wandel in eine dramatische finanzielle Schieflage gerate, die selbst durch eine gezielte Arbeitsmigration nicht ausgeglichen werden könne.
    "Wir haben ein Problem: Einen Sozialstaat, der inzwischen ein Drittel unserer Wertschöpfung aufbraucht. Und wir bezuschussen Niedrigqualifizierte über die sozialen Sicherungssysteme so stark, dass wir die Zuwanderung von Niedrigqualifizierten uns schlichtweg nicht leisten können. Das ist der Punkt, den die Studie macht", erklärt Raffelhüschen.
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    Wörtlich heißt es in der Studie, dass "die eigentlichen Probleme weniger auf die Migration als vielmehr einen zu großzügigen (Sozial)Staat, der dauerhaft über seine Verhältnisse lebt, zurückzuführen sind". Die Migrationspolitik sei zwar von großer Bedeutung für Deutschlands Finanzen - sie spiele hinter den reformbedürftigen Sozialversicherungen "jedoch nur die zweite Geige."



    Institut der Wirtschaft: Arbeitsmarkt auf Zuwanderung angewiesen

    Wie wichtig Zuwanderung für die deutsche Wirtschaft bleibt, betont auch Jochen Pimpertz vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW). Er verweist auf "eindeutige" IW-Studien, wonach Zuwanderer seit Jahren dabei helfen, den zunehmenden Fachkräftemangel abzufedern. 
    "Wir sehen in der deutschen Industrie, dass die Engpass-Situation bei den Fachkräften zunimmt - und zwar in den unterschiedlichsten Tätigkeitsfeldern und Qualifikationen", sagt Pimpertz. Unternehmen, die aufgrund der Nachfrage eigentlich expandieren könnten, seien dazu teils nicht mehr in der Lage. "Zuwanderung, insbesondere wenn sie eine Integration in den Arbeitsmarkt bedeutet", stärke die Fachkräftebasis, erklärt der Ökonom - und eröffne so Möglichkeiten, "in prosperierenden Bereichen Geschäftsfelder weiterzuentwickeln".

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