Bundestag erinnert an homosexuelle NS-Opfer

    Holocaust-Gedenktag:Bundestag erinnert an homosexuelle NS-Opfer

    von Stephanie Gargosch, Berlin
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    Am Holocaust-Gedenktag im Bundestag lieh Schauspieler Jannik Schümann seine Stimme einem homosexuellen NS-Opfer. Zum ersten Mal lag der Fokus auf verfolgten queeren Menschen.

    "Es ist nicht in Worte zu fassen, was das für mich bedeutet", sagt der Schauspieler Jannik Schümann im Bundestag. Zum Holocaust-Gedenktag gibt er dem NS-Opfer Karl Gorath eine Stimme. "Als ich meinem Vater davon erzählte, hat er am Telefon geweint", erzählt der 30-Jährige. Schümann liest Worte Goraths.
    Der NS-Überlebende Gorath war homosexuell, der 30-jährige Schümann ist es auch. Doch anders als Gorath, der wegen seiner sexuellen Neigung verurteilt und verhaftet wurde, kann Schümann seine Liebe offen leben und im Parlament sprechen.

    Bundestag gedenkt erstmals besonders der queeren Opfer

    An diesem 27. Januar 2023 gedenkt der Bundestag aller Opfer des Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt stehen jedoch Opfer sexueller Minderheiten. Lange wurde ihr Leid in Deutschland totgeschwiegen. Umso wichtiger ist dieser Tag auch für die heute lebenden Homosexuellen.

    Das ist eine große Ehre für mich (...) an so einem Tag, in Deutschland, stellvertretend für eine verfolgte Minderheit, einem homosexuellen Opfer eine Stimme zu geben, als Teil unserer Community. Das ist wahnsinnig berührend.

    Schauspieler Jannik Schümann

    Wegen seiner Homosexualität kam Gorath ins KZ

    Karl Gorath, dessen Worte und Geschichte Schümann liest, wurde 1912 in Bad Zwischenahn geboren. Als er 22 Jahre alt war, denunzierte ihn ein eifersüchtiger Liebhaber. Gorath wurde nach Paragraf 175 des Strafgesetzbuches, der Homosexualität unter Strafe stellte, erstmals verurteilt.
    Der Inhaftierte Gorath arbeitete im KZ Neuengamme, in das er nach seiner Verurteilung gebracht wurde, als Pfleger. Am Häftlingsanzug musste er den rosa Winkel tragen, der ihn als Homosexuellen und Transvestiten auswies.

    Mehr als ein Jahrhundert lang sind homosexuelle Männer in Deutschland unter dem Strafrechtsparagrafen 175 verfolgt worden. Seit 1871 wurde im Deutschen Reich "widernatürliche Unzucht" zwischen Männern mit Gefängnisstrafen bedroht. Unter den Nationalsozialisten wurde der Paragraf noch einmal verschärft. Nach Angaben des Lesben- und Schwulenverbands gab es in der Nazi-Diktatur bis 1945 an die 50.000 Verurteilungen. In der Bundesrepublik galt die Regelung aus Zeiten der Diktatur bis 1969 unverändert weiter.

    Die DDR kehrte dagegen zur Fassung der Weimarer Republik zurück, hier wurde der Paragraf 175 im Jahr 1968 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. An seine Stelle trat der Paragraf 151, der für homosexuelle Handlungen ein höheres Schutzalter als für heterosexuelle Kontakte vorsah. Dieser hatte bis zum Sommer 1989 Bestand - kurz vor Fall der Mauer wurde die Sonderregelung für Schwule aus dem Strafrecht gestrichen. Auch in Westdeutschland galten besondere Schutzrechte für Jugendliche, sexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern waren aber nicht mehr strafbewehrt. Im vereinigten Deutschland dauerte es aber noch bis 1994, bis der berüchtigte Paragraf gestrichen wurde.

    Quelle: dpa

    Nach Auschwitz deportiert

    In der Hierarchie der Gefangenen im Konzentrationslager standen Homosexuelle auf der untersten Stufe. Als der gelernte Pfleger Gorath die Brotrationen für russische Patienten reduzieren sollte, weigerte er sich und wurde nach Auschwitz deportiert.
    Auschwitz
    1945 wurde Auschwitz von der Roten Armee befreit. In dem Konzentrationslager starben insgesamt rund 1,1 Millionen Menschen – vor allem Juden. 27.01.2020 | 4:11 min
    Dort trug er ein rotes Dreieck, das ihn als politischen Gefangenen kennzeichnete und ihm, nach eigener Aussage, das Leben rettete. Am 27. Januar 1945 wurden alle Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz von der Roten Armee befreit. Gorath war kurz zuvor auf einen Transport Richtung Westen geschickt worden, den er nur knapp überlebte.

    An der Ruhr erkrankt, von Franzosen gerettet

    Auf den Tag genau 78 Jahre später steht Jannik Schümann im Bundestag und liest die Worte des einst verurteilten Homosexuellen Gorath vor:

    Am 8. Mai 1945 (…) war ich an Ruhr erkrankt und fast schon tot. Ein französischer Arzt hat mich aus einem Berg von Leichen gezogen und wieder hochgepäppelt.

    Karl Gorath

    Nach Kriegsende wegen Sexualität verurteilt  

    Und auch nach dem Fall des Naziregimes konnte Gorath seine Sexualität immer noch nicht straffrei leben. Der Paragraf 175 bestand weiter, zuerst sogar in der verschärften Form der Nationalsozialisten. Und so wurde der homosexuelle Mann, der Auschwitz überlebt hatte, zwei Jahre nach Kriegsende demselben Richter vorgeführt und von ihm erneut verurteilt.
    Ein anderer ehemaliger homosexueller Häftling, Heinz Dörmer, berichtet in einem Dokumentarfilm davon, wie die Nationalsozialisten Juden im KZ folterten, "das Gebrüll und das Geschrei war unmenschlich, unerklärlich, da versagt das Menschenhirn und vieles bleibt ungenannt".

    Bärbel Bas: Geschichten aller Verfolgten erzählen

    "Für unsere Erinnerungskultur ist es wichtig, dass wir die Geschichten aller Verfolgten erzählen. Ihr Unrecht sichtbar machen. Ihr Leid anerkennen", sagt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) während der Gedenkstunde am heutigen Freitag.
    Erst am 10. Juni 1994 wurde die rechtliche Ächtung Homosexueller in Deutschland abgeschafft. Gorath half das nicht mehr, vorbestraft fand er nur schwer Arbeit und verarmte. 2003 starb er. Der Schauspieler Jannik Schümann war 1994 gerade zwei Jahre alt.

    Ich bin immer wieder froh darüber (...), dass ich heute in Deutschland als Homosexueller in einem freien Land leben darf. Trotzdem glaube ich, dass es noch ein langer Weg ist und dass wir weiter vorankommen müssen.

    Jannik Schümann

    Holocaust-Überlebende berichtet
    :"Auf den Pritschen saßen kleine Skelette"

    Kein anderes Kind überlebte in Auschwitz so lang wie Lidia Maksymowicz. Hier erzählt Maksymowicz, wie sie als Kleinkind Grausames durchstand - und dennoch keinen Hass verspürt.
    Holocaust-Überlebende Lidia Maksymowicz
    Interview

    Lesbische Frau fiel Euthanasie-Programm zum Opfer

    Der Bundestag gedachte heute auch der lesbischen Jüdin Mary Pünjer (1904-1942). Unter dem Vorwand der "Asozialität" war die verheiratete Hamburgerin 1940 verhaftet worden. 
    Nach ihrer Verurteilung kam sie 1942 in das Konzentrationslager Ravensbrück. Dort wurde sie im Frühjahr desselben Jahres in der "Euthanasie"-Anstalt Bernburg an der Saale ermordet. Für lesbische Frauen galt der Paragraf 175 nicht, er bestrafte allein "Unzucht" unter Männern.
    Stephanie Gargosch ist Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio.

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