Assads Giftgas vergessen:"Wir Syrer leben in einem Albtraum"

    Assads Giftgas ist vergessen:"Wir Syrer leben in einem Albtraum"

    von Golineh Atai und Amro Refai
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    Lange war Bashar Al-Assad ausgestoßen - wegen seiner Chemieangriffe und Massentötungen von Zivilisten. Nun scheint Saudi-Arabien seine Rückkehr in die Arabische Liga vorzubereiten.

    Der Kontrast könnte nicht größer sein. Hier die Fernsehbilder, die einen triumphierenden Bashar Al-Assad zeigen, wie er Oman und die Emirate besucht. Wie sein Außenminister diese Woche in Saudi-Arabien empfangen und diplomatische Beziehungen aufgenommen werden.
    Dort - in Nordwest-Syrien, im Oppositionsgebiet, wo die vor Assad Geflohenen leben - das Gedenken an die Gräuel der Assad-Herrschaft. In Idlib halten die Zivilschutzhelfer der Weißhelme Plakate hoch, die an die Giftgasangriffe von Khan Sheikhoun 2017 und Duma 2018 erinnern.

    Syrer: "Wir leben einen Albtraum"

    Immer im April kommt die Erinnerung zurück. Denn der Frühling war die beliebteste Jahreszeit für Angriffe, die Chemiewolke wirkte dank der Wetterbedingungen am effektivsten. In beiden Fällen hat die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) das Assad-Regime als Angreifer identifiziert.
    Aber statt Strafverfolgung und Gerechtigkeit erleben die Syrer, wie Assad zunehmend normalisiert wird.

    Wir Syrer leben in einem Albtraum. Wir kämpfen seit über einem Jahrzehnt, um einen Mechanismus zu finden, wie man ein Regime verantwortlich machen kann für seine Verbrechen. Aber es gibt keinen!

    Raed Al-Saleh, Vorsitzender der Weißhelme

    "Das Haager Tribunal und der Internationale Gerichtshof können in Syrien nicht ermitteln. Der UN-Sicherheitsrat kann kein Sondertribunal bilden - wegen des russischen und chinesischen Vetos", sagt Raed Al-Saleh, der Vorsitzende der Weißhelme.

    Helfer: Verbrechen in Syrien werden vertuscht

    Die Helfer seiner Zivilschutzorganisation sind im Syrien-Krieg stets die ersten Augenzeugen dieser Verbrechen gewesen. Sie wirkten mit am jüngsten Bericht der OPCW über Duma 2018. Sie brachten sich in Todesgefahr, sagt Al-Saleh, um Beweise und Proben zu retten - während das Regime und Russland Beweise vernichtet habe.
    Die Taktiken seien immer wieder die gleichen, erlebte Al-Saleh: Um ihre Spuren zu verwischen, ließen sie in Duma eine Autobombe explodieren, ja selbst Leichen umgraben und an unbekannte Orte bringen. Sie machten Menschen zu Geiseln, um Desinformation zu verbreiten. "Erinnern Sie sich an die Augenzeugen aus Duma, die Russland 2018 nach Den Haag flog, damit diese dort sagten, es habe gar keinen Giftgasangriff gegeben?", fragt Raed Al-Saleh und führt aus:

    Wir haben mehr als tausend Fotos, die genau diese Menschen bei der Ersten Hilfe nach dem Angriff zeigen. Darüber reden konnten wir nicht. Es hätte sie und ihre Familien in Gefahr gebracht.

    Raed Al-Saleh, Vorsitzender der Weißhelme

    "Wir hatten Informationen, wonach ihre Familien festgehalten wurden, während ihre Angehörigen in Den Haag waren", erklärt Al-Saleh. "Sie wurden also gezwungen, so zu reden."

    Desinformationen in Syrien

    Al-Saleh erinnert sich, wie ein Syrer ihn aufsuchte, der Desinformation über die Weißhelme verbreitet hatte. Als er ihm begegnete, erfuhr er, dass das Regime dem Mann einen Deal angeboten hatte: Er solle eine falsche Aussage machen - im Gegenzug würde man seine Familie aus dem Haft entlassen.
    "Natürlich wurden seinen Angehörigen nicht entlassen nach seinem Interview. Als er aus Syrien flüchtete, kam er, um sich bei mir zu entschuldigen für das, was er über uns im russischem Staatsfernsehen gesagt hatte."

    Russland will keine offenen Fragen klären

    Als der Generaldirektor der OPCW, Fernando Arias, Ende Januar seinen Untersuchungsbericht vor dem UN-Sicherheitsrat vorstellte, führte er aus, dass seine Organisation alle von Russland ins Spiel gebrachten Szenarien untersucht und für nicht stichhaltig befunden habe.
    Als Ausführende der Tat benannte sie die Eliteeinheiten von Syriens Militär, die "Tiger Forces", dessen Kommandeur Suhail Al-Hassan von Wladimir Putin und seinen Generälen immer wieder geehrt wurde. Moskau und Damaskus lehnten den OPCW-Bericht wie erwartet ab.

    Syrisches Regime kommt OPCW-Ersuchen nicht nach

    Syriens Regime kam dem Ersuchen von OPCW nicht nach, bezüglich der Chemiewaffenakte offene Fragen zu klären und Auskunft zu geben.
    Der OPCW-Generaldirektor endete seinen Bericht mit Worten, die einer Mahnung gleichkommen. Er erinnerte daran, dass die Unterzeichnerstaaten des Chemiewaffenübereinkommens eine Verpflichtung eingegangen seien. "Die OPCW stellt der internationalen Gemeinschaft Material und Belege zur Verfügung, die ihnen bei ihrer Aufgabe helfen, die Ausführenden zur Rechenschaft zu ziehen. Der Bericht ist nun in ihren Händen."

    Es liegt nun an der internationalen Gemeinschaft, weitere Schritte oder Maßnahmen zu ergreifen - jene, die sie für notwendig hält.

    Fernando Arias, Generaldirektor der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW)

    Giftangriffe in Syrien: Gericht oder Tribunal bleibt aus

    Doch bis heute ist nichts passiert. Der ehemalige OPCW-Chemiewaffeninspektor Lennie Phillips, der bei den Ermittlungen in Khan Sheikhoun 2017 mitwirkte, schreibt in einem persönlichen Rückblick: "Die Detektive identifizierten in Khan Sheikhoun, wen sie für den Mörder halten - was ist also der nächste Schritt? Eine normale Person würde denken, dass ein Gericht oder ein Tribunal die Antwort wäre - um dort die Fakten auf den Prüfstand zu stellen."

    Doch die Unterstützer der syrischen Regierung - die zugleich die Befürworter des Gebrauchs von Chemiewaffen sind - entschieden sich für einen anderen Weg. Sie entschieden, das Mandat des gemeinsamen Untersuchungsteams von OPCW und UN, das die Verantwortlichen festmacht, nicht zu verlängern.

    Lennie Phillips, ehemaliger OPCW-Chemiewaffeninspektor

    Und weiter: "Desinformation wurde verbreitet. Einander widersprechende Desinformationen, alle wahrscheinlich von der gleichen Quelle, mit dem Ziel, Verwirrung zu stiften und zu schauen, welche Desinformation am besten funktioniert."

    Augenzeuge: "Ich sah, wie Kinder starben"

    Augenzeugen und Geflüchtete der Angriffe leben bis heute in Lebensgefahr. Ihr Wissen gefährdet sie. Abu Rashid, ein Überlebender aus Duma, floh 2018 nach Nordwest-Syrien. Sieben Angehörige verlor er in Duma. Nach dem Angriff erlitt er einen Schlaganfall, seine Lunge hat sich bis heute nicht erholt. Jedes Interview strengt ihn an.

    Assad griff Kinder an. Keine militärischen Ziele, sondern Kinder!

    Abu Rashid

    "Ich sah, wie Kinder starben. Wie meine Nachbarn starben. Und nun nennt ihr Assad einen legitimen Präsidenten! Wie kann das sein?".
    Golineh Atai ist Leiterin des ZDF-Auslandsstudios in Kairo. Amro Refai arbeitet als freier Journalist für verschiedene internationale Medien, unter anderem das ZDF.
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