Kemal Kilicdaroglu: Der Mann, der Erdogan ablösen will

    Kemal Kilicdaroglu im Porträt:Wer ist der Mann, der Erdogan ablösen will?

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    Er marschierte aus Protest von Ankara nach Istanbul und will wieder mehr Demokratie in der Türkei. Oppositionsführer und Erdogan-Herausforderer Kemal Kilicdaroglu im Porträt.

    Ein Arbeiter hält ein Schild hoch mit der Aufschrift "adalet" - "Gerechtigkeit". Die Figur steht auf dem Schreibtisch des türkischen Oppositionsführers Kemal Kilicdaroglu (74) in Ankara. Sie erinnert an einen der starken Momente in seiner Karriere: 2017 führte Kilicdaroglu einen Protestmarsch von Ankara nach Istanbul an, er lief mehr als 400 Kilometer zu Fuß, Tausende folgten ihm.
    Auslöser des Protestes war damals die Verurteilung eines Abgeordneten von Kilicdaroglus sozialdemokratischer Partei CHP. Der Marsch wurde zum Aufschrei gegen Massenentlassungen, Verhaftungen und der als repressiv wahrgenommenen Politik von Präsident Recep Tayyip Erdogan.
    Gegen die Ungerechtigkeit in der Türkei und den "Ein-Mann-Staat" will Kilicdaroglu nun wieder in den Kampf ziehen. Er ist bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen am 14. Mai Kandidat für sechs Oppositionsparteien unterschiedlicher Lager. Der 69-jährige Erdogan geht nach 20 Jahren an der Macht erstmals nicht als Favorit ins Rennen.

    Spitzname "Gandhi der Türkei"

    Während seines Protestmarschs 2017 hatten Anhänger Kilicdaroglu gefeiert und ihm den Spitznamen "Gandhi der Türkei" verpasst, auch wegen seines ausgeglichenen Gemüts und der leichten Ähnlichkeit mit dem indischen Widerstandskämpfer. Ob Kilicdaroglu heute wie damals Massen begeistern kann, daran gab es dennoch Zweifel.
    Viele waren gegen seine Kandidatur, auch aus den eigenen Reihen. Als Favorit galt der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu, der aber mit einem Politikverbot belegt wurde. Kritiker warfen Kilicdaroglu vor, dass er den Unmut der Bevölkerung über die wirtschaftliche Lage jahrelang nicht in einen Stimmzuwachs für seine Partei ummünzen konnte. Erfolge bei nationalen Wahlen konnte Kilicdaroglu in seinen 13 Jahren als Oppositionsführer nicht vorweisen.

    Image eines farblosen Bürokraten

    Kilicdaroglu wurde 1948 in der osttürkischen Provinz Tunceli geboren und gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an. Mit einem Video, in dem er sich im April erstmals öffentlich dazu bekannte, brach Kilicdaroglu ein Tabu und erzielte mehr als 100 Millionen Klicks.
    Studiert hat Kilicdaroglu Wirtschaft in Ankara, in den 90er Jahren leitete er die Sozialversicherungsanstalt. Das Image des farblosen Bürokraten hängt ihm teils noch immer nach.
    Doch in diesen Tagen scheint alles Angestaubte verflogen. In der Erdogan-Hochburg Ordu zieht Kilicdaroglu Tausende Menschen an. Viele schwenken Fahnen, stehen an Fenstern und klettern sogar auf Dächer, nur um einen Blick auf Kilicdaroglu zu erhaschen. Der springt für seine 74 Jahre flink auf die Bühne, formt ein Herz mit Zeigefingern und Daumen und ruft: "Seid ihr bereit für Veränderung?" - "Evet" - "Ja", schallt es ihm entgegen.
    Kritiker werfen Kilicdaroglu vor, keine Anführer-Figur zu sein, wie die Türkei eine brauche. Erdogan dagegen "bietet der Welt die Stirn", sagt etwa ein 58-jähriger Anhänger des Präsidenten.

    Rivale präsentiert sich als Gegenentwurf zu Erdogan

    Kilicdaroglu präsentiert sich als Gegenentwurf zu Erdogan: Ruhiges, statt markiges Auftreten, Wahlkampfvideos aus einer einfachen Küche statt Einweihung von Großprojekten - und gesellschaftliche Versöhnung statt Polarisierung.
    Die Türken hätten genug von Erdogan, sagt Kilicdaroglu der dpa und plädiert für eine von "Vernunft" geleitete Politik. Im Falle eines Sieges will das Bündnis das Präsidialsystem wieder abschaffen und einen zügigen Beitritt in die EU vorantreiben. Um die angeschlagene Wirtschaft zu stützen, wolle man Investoren auch aus Deutschland gewinnen.
    Türkischer Präsident Recep Tayyip Erdogan in Istanbul (Türkei), aufgenommen am 21.04.2023
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    Beim Thema Flüchtlinge schlägt Kilicdaroglu einen nationalistischen Ton an. Er kündigte an, die Millionen Syrer im Land auf freiwilliger Basis zurückzuschicken, wohlwissend, dass sich die Stimmung im Land gegen die Flüchtlinge gewandt hat. Nach dem Erdbeben vom 6. Februar warf der Oppositionsführer Erdogan Versagen vor.

    Kilicdaroglu gilt als guter Vermittler

    Kilicdaroglu gilt als guter Vermittler mit Kompromissbereitschaft. Seine eigene Partei CHP, die als elitär und nationalistisch galt, rückte unter seiner Führung in die Mitte. Die Idee, ein Sechser-Bündnis gegen Erdogan zu schmieden, soll von ihm stammen. Als das Bündnis Anfang März über die Frage, wer gegen Erdogan kandidieren soll, kurz vor dem Zerbrechen war, reagierte Kilicdaroglu gelassen.
    Es werde sich schon alles fügen, sagte er - und sollte Recht behalten. Die prokurdische HDP gehört nicht zum Sechser-Bündnis, gilt aber als Königsmacher. Sie hat ihre Wähler inzwischen dazu aufgerufen, Kilicdaroglu zu unterstützen.
    Erdogan intensivierte kurz vor der Wahl seine Verbalattacken - am vergangenen Sonntag beschimpfte der türkische Präsident seinen Rivalen als "Säufer" und warf ihm vor, mit "Terroristen" zusammenzuarbeiten.
    Quelle: Von Mirjam Schmitt, dpa
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