Risiko-Expertin: Warum globale Krisen wie Nashörner sind

    Interview

    Expertin zu "Gray Rhino"-Konzept:Warum globale Krisen wie große Nashörner sind

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    Graue Nashörner - so nennt Risiko-Expertin Michele Wucker offensichtliche, aber bisher ungelöste Krisen. Rennen davon zurzeit mehr als sonst auf uns zu? Und wie geht man damit um?

    Nashörner
    Krisen können wie mächtige Nashörner wirken, die auf uns zurennen, sagt Expertin Michele Wucker. Und erklärt, warum es schlecht ist, sie zu ignorieren.

    Seit ein paar Jahren kommt es vielen Menschen so vor, als jage eine Krise die nächste - Corona, Ukraine-Krieg, Extremwetter, Gaza-Krieg. Die US-amerikanische Risiko-Expertin Michele Wucker erklärt, ob sich die schlimmen Ereignisse tatsächlich derzeit häufen, warum sie diese graue Nashörner nennt und was jeder Einzelne beisteuern kann, damit sie uns nicht niedertrampeln und die Zeiten wieder besser werden.
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    ZDFheute: Frau Wucker, Sie sind besonders bekannt für das sogenannte Gray-Rhino-Konzept (dt.: graues Nashorn). Andere Menschen reden von Krisen, Sie von grauen Nashörnern. Warum?
    Michele Wucker: Ein Gray Rhino ist etwas Großes, Furchteinflößendes, das auf dich zugerannt kommt. Es ist ein offensichtliches Problem. Natürlich ist es eine Metapher, aber es ist auch ein effektives Kommunikationswerkzeug für Krisen, weil es eine emotionale Verbindung schafft.

    Michele Wucker
    Quelle: Netease

    ... ist eine US-amerikanische Risiko-Analystin. Sie ist Autorin des Buchs "The Gray Rhino", in dem es um wahrscheinliche, aber vernachlässigte Krisen und Bedrohungen geht. Das Konzept stellte sie erstmals auf der Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums in Davos im Jahr 2013 vor. Wucker ist zudem die Gründerin von Gray Rhino & Company.

    ZDFheute: Bei extrem seltenen, unerwarteten und schlimmen Ereignissen redet man auch von einem "schwarzen Schwan". Wozu also zusätzlich noch ein "Gray Rhino"?
    Wucker: Menschen konzentrieren sich zu häufig auf die schwarzen Schwäne, die mysteriösen, unvorhersehbaren Situationen. Es ist zwar verständlich, sich das Unvorstellbare ausmalen zu wollen, aber es lenkt den Fokus ab.

    Wir versuchen dann, Risiken zu identifizieren, die noch nicht da sind, und kümmern uns dadurch zu wenig um die großen grauen Nashörner, die wir schon kommen sehen und auf die wir auch reagieren könnten.

    Michele Wucker, Risiko-Analystin

    Wir wissen zwar nicht genau, wann genau sie eintreten und welche konkreten Folgen sie haben werden, aber die Tatsache, dass wir um ihre Existenz wissen, bedeutet, dass wir uns Lösungen überlegen können.
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    ZDFheute: Viele Menschen haben das Gefühl, von solchen Nashörnern immer mehr überrannt zu werden - Klima, Kriege und so weiter. Stimmt es, dass es im Moment mehr Krisen auf einmal gibt als sonst?
    Wucker: Alles, überall, zur gleichen Zeit? Ja, das scheint das neue Motto zu sein. Es gibt momentan mehr geopolitische Spannungen an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit. Und ja, das klassische Beispiel für ein Gray Rhino ist der Klimawandel. Es ist völlig klar, dass wir in Hitze und Dürre schmoren und in Fluten ertrinken werden, wenn wir die Treibhausgas-Emissionen nicht senken.

    Außerdem wissen wir, dass wirtschaftliche und finanzielle Krisen immer wiederkehren, auch sie sind offensichtlich.

    Michele Wucker, Risiko-Analystin

    Dazu kommen die negativen Folgen von Künstlicher Intelligenz und Sprachmodellen, wie zum Beispiel die schnelle Verbreitung von Desinformationen oder Deepfakes. Ich denke, was wir jetzt sehen, ist die Folge einer ganzen Herde an Gray Rhinos.
    ZDFheute: Was meinen Sie damit?
    Wucker: Ich sage gerne, dass hinter jedem schwarzen Schwan viele graue Nashörner stehen. Das heißt: Wenn man das offensichtliche Problem über Jahre oder gar Jahrzehnte ignoriert, kommt irgendwann alles zu einer äußerst kritischen Situation zusammen: einem schwarzen Schwan.
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    ZDFheute: Das heißt, wir reagieren nicht richtig auf die offensichtlichen Probleme?
    Wucker: Es gibt drei Möglichkeiten, mit einem Gray Rhino umzugehen: Erstens, man erstarrt und wird niedergetrampelt. Zweitens, man geht aus dem Weg und lässt den Menschen hinter sich niedergetrampelt werden. Drittens, man realisiert, dass dieses zwei Tonnen schwere Biest sehr mächtig und stark ist. Dass man diese Stärke nutzen kann und daraus Positives schaffen kann.
    ZDFheute: Inwiefern?
    Wucker: Oft verändern Menschen nichts an ihrer Situation, bis sie schwer auf ihnen lastet. Lassen Sie uns das Beispiel Klimawandel noch einmal heranziehen: Man denke nur an die Kosteneinsparungen, die Verringerung der Umweltverschmutzung und die gesundheitlichen Vorteile, die sich aus der verstärkten Einführung sauberer Technologien und erneuerbarer Energien ergeben könnten.
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    Diese Vorteile kamen nicht so schnell, wie sie hätten eintreten können, weil die fossilen Brennstoffe so lange übermäßig profitabel waren und eine große Lobby dahinterstand. Aber jetzt, wo wir verrückte Kälteeinbrüche erleben, verheerende Waldbrände im Sommer, verschmutzte Luft, da werden die Folgen und die Kosten des Klimawandels immer spürbarer.

    Der Klimanotstand ist also ein mächtiges Gray Rhino, das aus diesem Grund aber auch eine vorteilhafte Entwicklung herbeiführen kann.

    Michele Wucker, Risiko-Analystin

    ZDFheute: Wenn man an die Krisen und Kriege auf der Welt denkt, fühlen sich viele überwältigt und machtlos. Kann ein Einzelner oder eine Einzelne überhaupt etwas bewirken?
    Wucker: Ich glaube, dass viele Menschen mit so vielen Informationen überschüttet werden, dass sie gar nicht wissen, was sie damit anfangen sollen. Deshalb kommt es vor allem darauf an, herauszufinden, was einem selbst als der sinnvollste Beitrag erscheint und was man im eigenen Einflussbereich bewirken kann.

    Es gibt Studien, die zeigen, dass man etwas umso eher angeht, je mehr Macht man zu haben glaubt. Und natürlich auch umgekehrt: Jede Kleinigkeit, die man tut, gibt einem das Gefühl, mehr Macht zu haben.

    Michele Wucker, Risiko-Analystin

    Selbst wenn man dadurch kein Tausende Meilen entferntes Problem löst. Zwei Punkte zeigen sich immer wieder: Erstens, Individuen können etwas bewirken, vor allem, wenn sie sich in Gruppen Gleichgesinnter wiederfinden. Zweitens, die meisten Probleme können gar nicht ohne die Mithilfe einzelner Menschen gelöst werden.
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    ZDFheute: Mit Blick auf 2024: Was stimmt Sie optimistisch, was pessimistisch?
    Wucker: Vielen kommt es so vor, als würde jedes Jahr eine neue Welle unerfreulicher Ereignisse mit sich bringen.

    Ich hoffe daher und bin optimistisch, dass dies die Dunkelheit vor der Morgendämmerung ist. Dass die Menschen realisieren, dass es Probleme gibt, die absolut gelöst werden müssen. Denn diese Erkenntnis würde uns einen Weg hinaus eröffnen.

    Michele Wucker

    Pessimistisch bin ich beim Thema KI und Desinformationen. Ich glaube wir laufen der Entwicklung zu langsam hinterher. Und das, was mir am meisten Sorgen bereitet, sind die US-Wahlen. Ich befürchte, wir werden Gewalt erleben, egal was passiert. Ich glaube aber, dass viele Menschen verstehen, was dieses Jahr auf dem Spiel steht und dass wir mit den Entscheidungen, die wir 2024 treffen, den Trend umkehren und 2025 viel besser machen können.
    Das Interview führte Annika Heffter, ZDFheute-Redakteurin.

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