Sozialbetrug in Deutschland: Wie groß ist das Problem?

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    Erschleichung von Leistungen:Sozialbetrug: Wie groß ist das Problem?

    Katja Belousova
    von Katja Belousova
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    Die Sorge vor Missbrauch von Sozialleistungen wie dem Bürgergeld ist allgegenwärtig. Doch wie groß ist das Problem - und der finanzielle Schaden? Versuch einer Annäherung.

    Eine Frau steht in vor einer Informationstafel im Eingangsbereich der Jugendberufsagentur Berlin.
    Viele Menschen in Deutschland sind auf Sozialleistungen der Jobcenter angewiesen. Doch wie häufig wird dabei betrogen?
    Quelle: dpa

    "Familien in Duisburg sollen Sozialleistungen erschlichen haben": Meldungen wie diese von Mitte August - häufig verbunden mit dem Schlagwort "Südosteuropa" - sorgen immer wieder für Unmut. Und sie finden Widerhall in der Politik, wenn vor "Sozialmissbrauch" oder "Sozialtourismus" gewarnt wird. Der Vorwurf: Die Sozialkassen werden geplündert - zulasten hart arbeitender Menschen.
    Doch wie hoch ist dabei der finanzielle Schaden - etwa mit Blick auf das Streitthema Bürgergeld? Und was haben "Clans aus Südosteuropa" dabei für eine Rolle?
    31.08.23, Schmallenberg: Friedrich Merz spricht in ein Mikrofon.
    Das Bürgergeld wird um 61 Euro erhöht. Und es gibt Gegenwind: Diejenigen, die arbeiten, müssten mehr Geld in der Tasche haben als die, die es nicht tun, sagte CDU-Chef Merz.31.08.2023 | 3:01 min

    Welche Rolle haben Clans bei Sozialbetrug?

    "Schätzungen zufolge werden zwei Drittel der Schwarzarbeit, auch des Sozialbetrugs, von Einheimischen, von Deutschen begangen, die zum Beispiel unberechtigt Kindergeld entziehen", sagt der emeritierte Ökonom Friedrich Schneider von der Uni in Linz. Er forscht seit Jahren zu Sozialbetrug in Österreich und Deutschland.
    Ihm ist es wichtig, das Gesamtbild ins Verhältnis zu setzen: Natürlich gebe es in Deutschland und Österreich Betrug durch Banden aus Südosteuropa - das sei nicht zu unterschätzen. Doch die häufige Fokussierung auf eine Tätergruppe sei irreführend.

    Dass das überwiegend von "Ausländern" oder "Clans" begangen wird, ist ein Klischee - das häufig auch durch Medienberichte verstärkt wird.

    Friedrich Schneider, Ökonom

    Was können Behörden unternehmen?

    Trotzdem müssten die Behörden besser gegen solche Gruppen vorgehen, fordert Schneider. Clans, insbesondere aus Südosteuropa, würden häufig aus großen Familienverbänden heraus agieren. "Sie haben häufig auch Wurzeln in Deutschland oder Österreich, wo es nicht immer leicht ist, durchzublicken, wer wer ist", erklärt er.

    Da kommt es dann auch mal vor, dass der eine Bruder in Griechenland, Bulgarien oder Rumänien, für den anderen Bruder in Deutschland Sozialleistungen kassieren kann und niemand merkt es. Weil die sich vom Foto kaum unterscheiden.

    Friedrich Schneider, Ökonom

    "Da braucht es eindeutig bessere Erfassungsverfahren", fordert der Ökonom. "Aber auch bessere Übereinkommen mit diesen Ländern, dass ein Leistungsabgleich und ein Abgleich der Personalien stattfinden kann."

    Damit eine Person sich nicht als jemand anderes ausgibt, offiziell gleichzeitig in zwei Ländern lebt und doppelt kassiert.

    Friedrich Schneider, Ökonom

    Nancy Faeser
    Der Vorschlag des Bundesinnenministeriums zu leichteren Abschiebungen von Clan-Mitgliedern wird weiter kontrovers diskutiert. Die Grünen zweifeln an der Rechtsstaatlichkeit.09.08.2023 | 2:39 min

    Wie viele Fälle von Sozialbetrug gibt es?

    Wie viele Menschen in Deutschland insgesamt Sozialbetrug begehen, ist dabei nicht einfach zu beziffern. Das zeigt etwa das Beispiel Bürgergeld: Auf Anfrage von ZDFheute teilt die Bundesagentur für Arbeit mit, dass ihr nur ein Teil der Daten zu Bürgergeld-Missbrauch zur Verfügung stünde.




    Demnach wurden 2022 mit Blick auf die Grundsicherung für Arbeitssuchende - seit diesem Jahr Bürgergeld genannt - rund 119.000 Fälle von Leistungsmissbrauch oder Verdacht auf Leistungsmissbrauch dokumentiert.
    Der Zoll ließ die ZDFheute-Anfrage zu seinen Zahlen zunächst unbeantwortet - reichte später aber seine Daten nach. Demnach gab es 2022 etwa 85.700 eingeleitete und knapp 86.700 erledigte Ermittlungsverfahren. Dabei betrachtet der Zoll nicht nur das Bürger-, sondern auch das Arbeitslosengeld.
    Gemessen an der Gesamtzahl von mehr als fünf Millionen Bürgergeld-Berechtigten in Deutschland, ist der Anteil der (Verdachts-)Fälle und Verfahren bei Sozialbetrug damit vergleichsweise gering.

    Schwerwiegende Missbräuche, wie beispielsweise der bandenmäßige Leistungsmissbrauch in einzelnen großstädtischen Ballungsräumen, kommen in Relation zu allen leistungsberechtigten Personen in der Praxis eher selten vor, untergraben aber das Vertrauen in den Sozialstaat und bringen alle Leistungsberechtigten generell in Verdacht.

    Bundesagentur für Arbeit

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    Wie hoch ist der Schaden durch Sozialbetrug?

    Auch zum finanziellen Schaden, der durch Leistungsmissbrauch entsteht, gibt es nur vage Angaben. Die Bundesagentur benennt für 2022 einen nachgewiesenen Vermögensschaden von rund 272,5 Millionen Euro im Zusammenhang mit Sozialbetrug beim Bürgergeld. Der Zoll spricht von einer aufgedeckten Schadenssumme von mehr als 87,9 Millionen Euro mit Blick auf Arbeitslosen- und Bürgergeld.
    Wie sind diese offiziellen Zahlen zu bewerten? "Diese Zahlen sind nicht schlecht - beziehen aber nicht die Dunkelziffer ein", erklärt Ökonom Friedrich Schneider und gibt zu bedenken, dass die Grenzen zwischen Sozialbetrug und Schwarzarbeit fließend seien: "Sozialbetrug beginnt auch schon dort, wo ich jemanden schwarz beschäftige für die Kranken- oder die Altenpflege der Eltern oder Großeltern."

    Dazu zählt aber auch, wenn man zusätzlich zum Bürgergeld-Regelsatz für die Familie schwarz etwas dazuverdient - und das nicht angibt.

    Friedrich Schneider, Ökonom

    Männliche Arbeitskraft aus Serbien in heruntergekommener Unterkunft bei schummrigem Licht vor Etagenbett und alter Schrankwand
    Immer wieder werden billige Arbeitskräfte aus dem Ausland unter falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt.18.04.2023 | 9:11 min
    Im Vergleich zur Bundesagentur für Arbeit weitet Schneider daher den Begriff des Sozialmissbrauchs - und unterscheidet zwischen drei Kategorien:
    1. "Klassischer" Sozialbetrug etwa von Bürger- oder Kindergeld
    2. Steuer- und Sozialversicherungsbetrug wegen Schwarzarbeit
    3. Steuerhinterziehung
    In seinen eigenen Berechnungen zeigt sich: Der finanzielle Schaden durch Steuerhinterziehung ist fast doppelt so groß wie durch Sozialbetrug - und die größten Probleme bereitet dabei die Schwarzarbeit.
    Schaden durch Sozial- und Abgabenbetrug
    ZDFheute Infografik
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    Zum Vergleich: 2022 hatte Deutschland etwa 1,2 Billionen Euro für soziale Ausgaben zur Verfügung. Schneiders Schätzung von insgesamt 113 Milliarden Euro jährlichem Schaden durch Sozial- und Abgabenbetrug macht etwa neun Prozent dieses Budgets aus. Das ist vergleichsweise gering - und trotzdem ein enormer Betrag.

    Wie sieht der Vergleich mit Steuerhinterziehung aus?

    Sozialbetrug müsse natürlich bekämpft werden, sagt Ökonom Schneider. "Gleichzeitig lohnt es sich aber viel mehr Steuerhinterziehung zu bekämpfen, weil da steckt deutlich mehr Geld drin." In der öffentlichen Wahrnehmung sei es aber oft umgekehrt.

    Sozialbetrug wird stärker stigmatisiert und hervorgehoben. Wenn jemand unrechtmäßig Kindergeld bezieht, wird das als etwas Unmoralischeres angesehen, als wenn jemand Steuern hinterzieht.

    Friedrich Schneider, Ökonom

    Der Grund sei, dass Sozialbetrug für viele Menschen greifbarer und leichter erklärbar sei. "Bei Steuerhinterziehung sind zum Beispiel gut 40 Prozent sogenannte Karussellgeschäfte - wo mit der Umsatzsteuer getrickst wird", erklärt er.

    Das ist klassischer Steuerbetrug - aber auch ein hochkomplexes Geschäft, das für viele schwer zu greifen ist.

    Friedrich Schneider, Ökonom

    Grafik zum Karussellbetrug
    Beim Karussellbetrug handeln Kriminelle eine Ware immer im Kreis, über mehrere EU-Länder hinweg. 07.05.2019 | 0:20 min

    Fazit

    Klar ist: Sozialbetrug ist in Deutschland durchaus ein Problem mit milliardenschwerem Schaden. Doch die Definition dessen, was als Sozialbetrug gilt, ist fließend - und das finanzielle Ausmaß durch Steuerhinterziehung und Schwarzgeld deutlich größer als durch klassischen Leistungsmissbrauch. Auch der Fokus auf Ausländer ist irreführend.
    Es lohnt sich, bei der nächsten Meldung zu Sozialbetrug also - wie so oft - das Gesamtbild nicht aus den Augen zu verlieren.

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