Wenn warnende Forschung ignoriert wird | Terra-X-Kolumne

    Kolumne

    Terra X - die Wissens-Kolumne:Wenn warnende Forschung ignoriert wird

    von Jasmina Neudecker
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    Beim Wiederaufbau in der Türkei und Syrien werden die Trümmer des Erdbebens und Warnungen der Wissenschaft beiseite gefegt. Ein Verhalten, das nicht nur Erdbebenforscher trifft.

    Terra X - Die Wissens-Kolumne: Jasmina Neudecker

    Die Sonne brennt auf meinem Gesicht. Das Atmen ist unangenehm, Staub fliegt konstant durch die Luft. Unter meinen Füßen knirscht es. Um mich herum liegen Beton, Stahl und Dreck. Dazwischen Papiere, Fotos, Schuhe, persönliche Gegenstände.
    In der Türkei, in Kahramanmaraş - direkt an der syrischen Grenze - stehe ich auf Trümmerbergen. Ich bin dort im Sommer 2023, ein halbes Jahr nach dem großen Erdbeben vom 6. Februar 2023. Über 50.000 Menschen sind hier ums Leben gekommen. Wo vorher das belebte Zentrum dieser Stadt war, ist jetzt ein großes Loch.

    In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.

    Für die Menschen gibt es kein "Irgendwann" mehr

    Wo eine Teenagerin vielleicht sehnsüchtig an ihren Schwarm dachte oder ein Mann, vor dem Fernseher sitzend in eine Doku versunken, träumte, "dort will ich auch mal hin… irgendwann" - genau da ist jetzt nichts mehr. Ein "Irgendwann" gibt es für diese Menschen nicht mehr.
    Aus der Schwärmerei wurde keine Liebe, die Träume und Ziele dieser Menschen - einfach weg. In Sekunden. Weil die Erde gebebt hat. Oder eigentlich: Weil die Häuser in denen sie lebten, nicht erdbebensicher gebaut waren - zu eng und auf einem ausgetrocknetem Flussbett voll sandigem Untergrund.
    Zerstörte Wohnung
    Ein Jahr nach dem Erdbeben fordern Betroffene Konsequenzen. NANO zeigt, wie Bestandsbauten erdbebensicherer gemacht werden können und Geologen prognostizieren, welche Regionen aktuell erdbebengefährdet sind.05.02.2024 | 28:40 min

    Die Trümmer missachteter Warnungen

    Während die Menschen vor den Trümmern standen, versuchten, die Leben zu retten, die es noch zu retten gab, kämpften sie auch gegen eine gnadenlose Kälte. Das erzählt mir der Erdbebenforscher Dr. Alican Kop. Er war beim Beben selbst in der Stadt. Die Region und die Verwerfungszone hatte er seit Jahren erforscht - und seit Jahren hatte er vor den Konsequenzen eines großen Erdbebens gewarnt.
    Ein Erdbeben hat keine verlässlichen Vorläuferphänomene. Das bedeutet: Es gibt zwar Vorboten, zum Beispiel Gasaustritte, kleinere Beben oder ein kompletter Bewegungsstillstand der tektonischen Plattengrenzen, die aneinander reiben - aber solche Indikatoren sind nicht verlässlich. Sie treten nicht immer vor einem Beben auf.
    Entstehung Erdbeben CC
    So entstehen Erdbeben: Die Gesteinsplatten der Erdkruste sind ständig in Bewegung. Sie können sich verhaken und eine enorme Spannung aufbauen. Löst sich diese ruckartig, bebt die Erde.26.09.2022 | 1:44 min
    Forschenden wie Dr. Kop bleibt also vor allem, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen und Zonen zu ermitteln, die gefährdet sind. Im besten Fall werden dort dann besondere Vorkehrungen getroffen, es wird erdbebensicher gebaut oder sogar gar nicht. Die Gebäude in Kahramanmaraş waren trotz der Warnungen aus der Forschung nicht an ein Erdbeben angepasst.

    Erdbebenforschung: Zwischen Sekunden und Wahrscheinlichkeiten

    Wenn es dann bebt, müssen die Menschen so schnell wie möglich gewarnt werden. Je nachdem, wie weit eine belebte Region von einer Verwerfungszone entfernt ist, variiert diese Vorwarnungszeit zwischen Minuten und Sekunden. Manche Verwerfungszonen sind so lang, dass man sie nur schwer vollumfänglich überwachen kann.
    Erdbebenforschung ist eine komplizierte und, wie ich finde, fast zermürbende Sache. Letztlich kann es eben nur darum gehen, ein Bewusstsein für erhöhte Wahrscheinlichkeiten zu schaffen. Aber so lange in diesen Gebieten gebaut wird, droht immer die schrecklichste aller Konsequenzen.

    Terra X - die Wissens-Kolumne
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    Terra X - Die Wissens-Kolumne: John A. Kantara

    Ohnmacht der Wissenschaft: Menschenleben werden dem Profit geopfert

    Und dann kommt die Ungerechtigkeit ins Spiel. Denn Naturkatastrophen sind nicht einfach unglückliche Unfälle. Sie sind ungerecht. Sie treffen diejenigen am stärksten, die sich am schlechtesten schützen können, die kein Geld haben für erdbebensichere Häuser, die in Systemen leben, in denen durch Korruption nicht auf Bauvorschriften geachtet wird, die keine Chance haben, einfach irgendwo anders hinzuziehen.
    Während er mir von seiner Arbeit erzählt, sehe ich den Schmerz im Gesicht von Dr. Kop. Wie sollen Menschen in der Forschung damit umgehen, dass sie Erkenntnisse generieren, die über Leben und Tod, über unsere Zukunft allgemein entscheiden könnten - und die dann einfach ignoriert werden?
    Grafik: Harald Lesch, Jasmina Neudecker und Mirko Drotschmann stehen vor riesiger Weltkugel
    Harald Lesch, Jasmina Neudecker und Mirko Drotschmann mit einem Rückblick auf 2023: auf Umbrüche, Krisen und Kontroversen, aber auch auf neue Erkenntnisse aus der Welt des Wissens.26.11.2023 | 43:25 min
    Als ich durch die zerstörte Stadt gehe, spüre ich den Willen der Menschen weiterzumachen, nach vorne zu schauen und zu leben. Zu diesem Weitermachen gehört jedoch Wohnraum. Und so wird wieder gebaut. Auch dort, wo es besonders gefährlich ist.

    Wissenschaftliche Warnungen ignorieren hat System

    Wieder wird der Rat der Wissenschaft also ignoriert, aber welche Alternativen haben die Menschen in Kahramanmaraş? Irgendwie verstehe ich beide Seiten gleichermaßen. Und dennoch: Das Problem ist symptomatisch für unsere Zeit.
    Wir setzen uns über Warnungen aus der Wissenschaft hinweg, sehen oft nur das kurzfristige Ziel, aber nicht die langfristigen Konsequenzen. Das gilt für uns, als Einzelne, vor allem aber für die Systeme, in denen wir leben. Vielleicht brauchen wir dafür ein besseres Verständnis von Wissenschaft. Denn Wissenschaft will - entgegen einiger Meinungen - nichts verhindern. Sie will schützen.
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    Jeder ist schon mal gescheitert. Fehler gehören zum Leben dazu. Doch darin liegen Chancen zu wachsen und zu lernen. 15.10.2023 | 26:57 min

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