Atlas der Zivilgesellschaft: Zivilgesellschaft in Ketten

    Atlas der Zivilgesellschaft:Wo Repressionen Alltag sind

    von Marcel Burkhardt
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    Nur drei Prozent der Weltbevölkerung leben in Staaten, in denen zivilgesellschaftliche Grundfreiheiten garantiert sind. Der Trend zu Repressionen setzt sich fort - auch bei uns.

    Russland, Moskau: Ein Teilnehmer einer Protestdemo wird von 3 Polizisten weg getragen. Archivbild
    Russland, Moskau: Ein Teilnehmer einer Protestdemo wird von drei Polizisten weggetragen. (Archivbild)
    Quelle: ap

    Von acht Milliarden Menschen auf der Welt leben nur 251 Millionen in Ländern, in denen zivilgesellschaftliche Grundfreiheiten garantiert werden. Das sind drei Prozent der Weltbevölkerung.
    Dagegen ist es für 2,2 Milliarden Menschen Alltag, "dass staatliche Behörden jene inhaftieren, verletzen, misshandeln oder gar töten, die offen Kritik üben oder sich für Freiheits- und Menschenrechte starkmachen".

    "Atlas der Zivilgesellschaft" zeigt Unterdrückungen auf

    Mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung lebt also in Staaten, in denen schwere Missstände und "Unterdrückungsmechanismen" herrschen, so das Ergebnis des neuen "Atlas der Zivilgesellschaft", den die Hilfsorganisation Brot für die Welt am Mittwoch in Berlin vorgestellt hat.
    Zu den Staaten mit "geschlossener Zivilgesellschaft" gehören demnach unter anderem:





    Globaler Trend zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft

    Weitere 3,3 Milliarden Menschen leben in Staaten, in denen Freiheitsrechte stark eingeschränkt sind. Das heißt: Dort werden Demonstranten mit scharfer Munition beschossen und unabhängige Stimmen drangsaliert.
    Insgesamt leben fast neun von zehn Erdenbürgern in Staaten, in denen die Zivilgesellschaft "beschränkt, unterdrückt oder geschlossen" ist. Global nehme der Trend zur "Unterdrückung" zu, zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume schrumpften unter staatlichem Druck zusammen.

    Pruin: Zivilgesellschaft wehrt sich gegen Repression

    Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt, sieht dennoch starke Zeichen von Akteuren, die gegen staatliche Repression aufbegehren - im Iran wie in vielen anderen Ländern. Pruin bezeichnete 2022 als "Jahr des Protests" der Zivilgesellschaft. Die Reaktionen aber fielen oft brutal aus:

    Polizei und Militär schlugen auf Demonstranten und Journalistinnen ein. Menschen wurden verhaftet oder sogar getötet.

    Dagmar Pruin, Präsidentin Brot für die Welt

    Das Ziel autokratischer Regime sei es, ein Umfeld der Angst zu erzeugen und zivilgesellschaftliche Organisationen in ihrer Arbeit zu behindern.

    Kritik an EU-Staaten wegen Repression gegen Seenotretter

    Viele dieser Organisationen litten "immer stärker unter Repressionen", berichtet Pruin. "Unzählige" Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien im vergangenen Jahr "drangsaliert, diffamiert, kriminalisiert, verhaftet, getötet worden", so Pruin.
    Einen besonderen Fokus legte sie auf Menschen, die sich mit ihrer Arbeit für die Rechte von Geflüchteten und Migrantinnen einsetzen. Pruin beobachtet zunehmend:

    Wer sich für Menschen einsetzt, die Schutz und Unterstützung am dringendsten brauchen, wird kriminalisiert, an der Arbeit gehindert oder bedroht.

    Dagmar Pruin, Präsidentin Brot für die Welt

    Mit Blick auf die Europäische Union ergänzte sie:

    Die Regierungen blockieren die Seenotrettung im Mittelmeer massiv. Der Tod dient als Abschreckung. Das ist ein zynisches Spiel mit Menschenleben.

    Dagmar Pruin, Präsidentin Brot für die Welt

    Pruin verwies dabei auf Recherchen, wonach seit 2016 zivile Rettungsschiffe durch EU-Staaten mehr als 1.100 Wochen blockiert worden seien. Das entspreche fast einem Drittel der möglichen Einsatzwochen.

    Zivile Helfer unter Druck

    Im Atlas der Zivilgesellschaft heißt es dazu: "Etwa 40 Schiffe haben private NGOs seit 2014 zur Seenotrettung ins Mittelmeer entsandt - eine Mobilisierungsleistung der Zivilgesellschaft. Ohne sie wären wohl weit mehr als die seither rund 26.000 Menschen ertrunken."
    Unter "fadenscheinigen Begründungen" seien Schiffe immer wieder beschlagnahmt, Crews in Gewahrsam oder mit "Gerichtsverfahren überzogen" worden. Das vermeintliche Kalkül: "Wenn weniger gerettet wird, kommen irgendwann auch weniger Flüchtlinge."

    Forderungen an Bundesregierung

    Belege für diese "zutiefst unmoralische Haltung" gebe es zwar nicht, allerdings seien systematische behördliche Attacken, Schikanen und Diffamierungen gegen die Helfer seit Jahren gut dokumentiert.
    In dem Zusammenhang fordert Brot für die Welt von der Bundesregierung, sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass künftig kein Mitgliedsstaat die zivile Seenotrettung mehr behindere. Um Menschenleben zu retten, solle zudem eine "Such- und Rettungsmission" der EU eingesetzt werden.
    ZDF-Korrespondent Andreas Postel
    Das Flüchtlingslager sei "stark überfüllt", die Zustände seien "schwer gewesen" und Italien versuche jetzt, Platz zu schaffen, so ZDF-Korrespondent Andreas Postel über die Flüchtlingssituation in Lampedusa.05.04.2023 | 3:26 min
    Außerdem fordert Brot für die Welt, dass die Zivilgesellschaft in der EU "freien Zugang hat zu Schutzsuchenden an Grenzen, in Haft- und Aufnahmeeinrichtungen, in Sperrzonen und auf See".
    Das war der Atlas der Zivilgesellschaft 2022: