Borderline-Syndrom: "Täglicher Kampf gegen sich selbst"
Leben mit Borderline-Syndrom:"Täglicher Kampf gegen sich selbst"
von Lena Gauer
|
Das Borderline-Syndrom galt in den 80er-Jahren noch als unheilbar - doch das stimmt nicht. Wie Betroffene mit der Persönlichkeitsstörung leben und was ein Experte Angehörigen rät.
Borderline-Syndrom bedeutet oft emotionale Instabilität.
Quelle: colourbox.de
"Borderliner sind manipulativ, Borderliner sind Monster, mit ihnen darf man keine Beziehung führen": Oliver kennt Vorurteile wie diese genau - er leidet selbst unter der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Seit er die Diagnose bekam, teilt er seine Gedanken und Erfahrungen auf Instagram.
"Kleinigkeiten, die so im Alltag passieren", erzählt er, "können mich gehörig auf die Palme bringen."
Sollten Sie oder eine andere Person Hilfe benötigen, finden Sie hier ein offenes Ohr für Ihre Anliegen:
Unter 0800 / 1110111 oder 0800 / 1110222 bietet die Telefonseelsorge kostenlose und anonyme Beratungen an. Jugendliche finden bei der Nummer gegen Kummer unter 116111 Hilfe.
Was ist eine Borderline-Persönlichkeitsstörung?
Das Borderline-Syndrom steht für eine emotional instabile und impulsive Persönlichkeitsstörung. Die Emotionen der Betroffenen befinden sich in einem permanenten Spannungszustand, der als "schwer auszuhalten" empfunden wird.
Für die Diagnose müssen international festgelegte Kriterien erfüllt sein, erklärt Dr. Hauke Wiegand, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz:
Zu den international festgelegten Kriterien zählen eine Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, eine Störung der Identität, eine affektive Instabilität sowie eine ausgeprägte Impulsivität.
Die WHO differenziert außerdem zwischen zwei Typen: dem impulsiven Typus, der durch mangelnde Impulskontrolle, unberechenbare Handlungen und eine emotionale Instabilität gekennzeichnet ist - und dem Borderline-Typus, dessen Merkmale mitunter intensive, aber unbeständige zwischenmenschliche Beziehungen und ein gestörtes Selbstbild sind.
Entscheidend für die Diagnose sei auch, welche psychosozialen Funktionsdefizite bei den Betroffenen auftreten - wie stark diverse Lebensbereiche beeinträchtigt werden und ob die Betroffenen es trotz ihrer Zustände noch schaffen, stabile Beziehungen zu führen und ihren Alltag zu bewältigen, fügt Wiegand hinzu.
Häufige Borderline-Symptome:
Wut und Aggressivität
Angst
Drogenkonsum
Gefühlsstörungen
Innere Leere
Realitätsverlust
Starkes Kontrollbedürfnis über andere Menschen
Suizidalität
Selbstverletzungen
Doch die Borderline-Persönlichkeitsstörung hat viele Facetten - und geht oft mit weiteren Diagnosen wie Angststörungen, Essstörungen oder Depressionen einher, sagt der Experte. [Jede sechste Person in Deutschland hat eine Angststörung. Ab wann Furcht eine Krankheit ist - und wie man sie behandeln kann.]
Was sind die Ursachen?
Laut Wiegand gibt es verschiedene statistisch feststellbare Faktoren, die in Kombination das Risiko erhöhen, an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu erkranken. Das können genetisch bedingte Temperamentsfaktoren sein, aber auch Erfahrungen von sexualisierter und körperlicher Gewalt, emotionaler Vernachlässigung und Mobbing in der Kindheit und Jugend. Andersherum lässt sich aber nicht sagen, dass diese Faktoren bei Betroffenen mit Borderline-Störung notwendig in der Lebensgeschichte vorgelegen haben müssen.
Vererbte Risikofaktoren, z. B. bestimmte Temperamentsfaktoren (hohe Impulsivität, Extrovertiertheit)
Dysfunktionale Eltern-Kind-Beziehungen
Kindesmisshandlung
Sexueller, verbaler oder körperlicher Missbrauch
Mobbingerfahrungen
Emotionale Vernachlässigung in der Kindheit
Oliver bekam die Diagnose vor zwei Jahren. "Einerseits war ich natürlich schon froh zu wissen, was mit mir los ist - also dem Kind einen Namen geben zu können, an einer Krankheit zu leiden", sagt der 30-Jährige. Andererseits sei es für ihn schwierig, er habe oft das Gefühl, der Sache "hilflos ausgesetzt" zu sein. Erschwerend kämen selbststigmatisierende Gedanken hinzu:
Gedanken, die auch Caroline teilt - auch sie ist betroffen. Dank ihrer Therapie hat sie gelernt, mit der Erkrankung umzugehen. "Ich bin nicht die Krankheit, aber sie ist definitiv ein Teil von mir", sagt sie. Inzwischen bezeichnet Caroline die Borderline-Persönlichkeitsstörung sogar als "Fluch und Segen" zugleich: Gefühle und Emotionen stärker wahrzunehmen bedeute nicht nur, Negatives stärker zu spüren, sondern eben auch Positives. Dennoch:
Auch Dominique hat mit der Zeit gelernt, mit ihrer Krankheit umzugehen und lässt sich von dieser nicht mehr kontrollieren:
15.05.2019 | 10:21 min
Kampf gegen Stigmatisierung und Vorurteile
Hinzu kommt: Die Betroffenen empfinden nicht nur die Diagnose als belastend, sondern kämpfen oft auch mit Vorurteilen: "Ich muss ehrlich zugeben: Ich sage sehr oft, dass ich Depressionen habe - und nicht, dass ich Borderline habe", sagt Caroline. "Weil die Angst zu groß ist, in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden."
Allein der Begriff "Borderliner" sei an der Stelle schon störend, weil man auf die Krankheit reduziert werde, sagt Oliver.
Was Angehörige tun können
Auch für Angehörige kann die Erkrankung herausfordernd sein, weiß Wiegand. Grundsätzlich - sofern sie zu einer verständnisvollen Haltung in der Lage seien - empfiehlt er, sie in die Therapie miteinzubeziehen.
Es gebe außerdem verschiedene Unterstützungsangebote für die Angehörigen selbst - etwa den Bundesverband sowie die Landesverbände der Angehörigen psychisch kranker Menschen, Selbsthilfegruppen und sogenannte "Borderline-Trialog-Angebote".
Warum man mit Depressionen lange auf einen Therapieplatz warten muss
Wie stehen die Chancen auf Genesung?
In den 80er-Jahren habe man die Borderline-Störung noch für eine unheilbare Erkrankung gehalten, erklärt Wiegand. Betroffene seien in geschlossenen psychiatrischen Abteilungen behandelt worden, ohne eine Aussicht auf Besserung. Doch Erkrankte müssten nicht fürchten, ihr ganzes Leben lang darunter zu leiden, sagt er. Inzwischen gebe es vier spezielle gut etablierte Psychotherapieverfahren, die eine Aussicht auf Besserung ermöglichten:
Dialektisch behaviorale Therapie
Schematherapie
Mentalisierungsbasierte Therapie
Übertragungsfokussierte Therapie
Was Betroffene sich von der Gesellschaft wünschen
Caroline hofft, dass der Umgang mit psychischen Erkrankungen offener wird - unabhängig von der Diagnose selbst. Sie und Oliver wünschen sich, dass Borderline als individuelle Persönlichkeitsstörung angesehen wird - und sie nicht auf ihre Krankheit reduziert werden.
Psychologin Tabea Send wünscht sich Erste-Hilfe-Kurse für psychische Probleme: