Fahren ohne Fahrschein: "Justizminister unter Zugzwang"

    Interview

    Fahren ohne Fahrschein:Experten fordern Ende der Haftstrafe

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    Wer in Bus oder Bahn ohne Ticket fährt und die Geldstrafe nicht zahlt, muss mit Gefängnis rechnen. Arne Semsrott von der Initiative Freiheitsfonds kauft Inhaftierte frei.

    Wer ohne Fahrschein fährt, dem kann eine Freiheitsstrafe drohen.
    Wer ohne Fahrschein fährt, dem kann eine Freiheitsstrafe drohen.
    Quelle: Arne Dedert/dpa

    ZDFheute: Fahren ohne gültigen Fahrschein ist in Deutschland seit der Nazi-Zeit eine Straftat. Wer mehrfach erwischt wird und die Geldstrafe nicht bezahlt, muss eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe ableisten. Wie viele Menschen betrifft das jährlich?
    Arne Semsrott: Es gibt in der deutschen Justiz nur wenige Statistiken, die genaue Zahlen zeigen, aber wir können herleiten, dass es pro Jahr circa 7.000 bis 10.000 Menschen sind. Für diese Leute können Haftstrafen von wenigen Wochen aber auch vielen Monaten zusammenkommen.

    Arne Semsrott, Gründer der Initiative Freiheitsfonds
    Quelle: Arne Semsrott

    ... ist Journalist und Aktivist. Der 35-Jährige leitet das Informationsportal "Frag den Staat", über das Bürgerinnen und Bürger Anfragen an fast alle staatlichen deutschen Organisationen stellen können. Vor zwei Jahren gründete Semsrott zudem den gemeinnützigen Verein "Freiheitsfonds". Er kauft Menschen aus Gefängnissen frei, die wegen Fahrens ohne Fahrschein eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen.

    ZDFheute: Wer muss vor allem in Haft?
    Semsrott: Es gibt Aktenanalysen, die zeigen, dass fast ausschließlich Menschen betroffen sind, die sich in einer Krise befinden. Das sind zum allergrößten Teil Menschen ohne Erwerbsarbeit und zu etwa 15 Prozent Menschen, die suizidgefährdet sind.
    Es sind zum großen Teil Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben. Leute, die ohnehin schon arm sind. Deren prekäre Lage wird durch eine Ersatzfreiheitsstrafe weiter verschlimmert.
    ZDFheute: Sie haben die Initiative Freiheitsfonds gegründet und bieten Inhaftierten quasi einen Fahrschein aus dem Gefängnis. Wie funktioniert das?
    Semsrott: Unser Ziel ist, dass niemand mehr in den Knast muss wegen Fahrens ohne Fahrschein. Der Paragraph 265a müsste dafür aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden.
    Bis die Politik soweit ist, kaufen wir Leute aus dem Gefängnis frei - inzwischen sind es schon fast 850 Frauen und Männer in fast allen Bundesländern gewesen. Wir bekommen Anträge einerseits von den Betroffenen, andererseits erhalten wir die meisten Anträge inzwischen von den Gefängnissen.
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    Für mich zeigt das, wie groß der Handlungsbedarf ist, wenn das Strafsystem selbst sich nun an eine zivilgesellschaftliche Organisation wendet und sagt: Bitte helft uns, es kann so nicht weitergehen! Es bindet zu viele Kräfte und ist zudem auch ökonomisch irrsinnig.
    ZDFheute: Inwiefern?
    Semsrott: Jemanden einen Tag zu inhaftieren, kostet den Staat 200 Euro. Wenn Leute wegen eines Schadens von vielleicht zehn Euro einen Monat in den Knast müssen, kostet das den Steuerzahler 6.000 Euro. Das ist völlig unverhältnismäßig.

    Nach unseren Berechnungen haben wir dem Staat bislang schon mehr als zwölf Millionen Euro Kosten erspart.

    Arne Semsrott

    ZDFheute: Um die Inhaftierten freizukaufen, hat der Freiheitsfonds nach eigenen Angaben bislang 752.000 Euro ausgegeben. Woher kommt das Geld?
    Semsrott: Das sind Spenden von Einzelpersonen; von fünf bis 1.000 Euro ist da alles dabei.
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    ZDFheute: Bei einer kürzlich stattgefundenen Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestags hat sich die überwiegende Mehrheit der geladenen Sachverständigen dafür ausgesprochen, den Straftatbestand zu streichen. Was erwarten Sie nun?
    Semsrott: Es herrscht tatsächlich ein breiter Konsens, dass es zu einer Entkriminalisierung kommen sollte und ich erwarte vom Justizministerium, dass das auch endlich passiert.
    Seit zwei Jahren sagt Bundesjustizminister Marco Buschmann, dass eine Entkriminalisierung geprüft wird. Buschmann ist jetzt unter Zugzwang und hat die Möglichkeit für eine historische Reform.
    ZDFheute: Sonst bliebe alles beim Alten?
    Semsrott: Ja, das Problem bliebe bestehen, dass Menschen für ein Bagatelldelikt in den Knast müssen und viel härter bestraft werden als etwa jemand, der angetrunken Auto gefahren ist und andere gefährdet hat.
    Bis sich etwas ändert, werden wir auf diesen Missstand im Strafrecht weiter aufmerksam machen. Wir hoffen aber, dass es unsere Initiative bald nicht mehr braucht.
    Das Interview führte Marcel Burkhardt.