Kinderkliniken sind überlastet: Ein Besuch auf Station

    Kein Herz für Kinder?:Kinderkliniken in Bedrängnis

    von Sibylle Bassler
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    Bundesweit sind Kinderkliniken in Not. Laut einer aktuellen Umfrage unter Intensiv- und Notfallmedizinern muss jede zweite Patienten wegschicken, weil kein Bett mehr frei ist.

    Es ist 9 Uhr morgens auf der onkologischen Kinderstation der Uniklinik Regensburg. Mitten in die Lagebesprechung platzt ein Anruf: Ein kleiner Notfallpatient benötigt dringend ärztliche Hilfe. Keine Chance, so Oberärztin Silke Kietz, kein einziges Bett auf Station ist frei.
    Personalmangel, hoher Krankenstand, zu wenig Betten - wie überall. Doch die kleinen Patienten trifft es mit voller Wucht. Sie fühle sich sehr schlecht, so Oberärztin Kietz, denn jede Minute zähle: "Der Krebs wartet nicht."

    Triage ständige Bedrohung in Kinderkliniken

    Dieses böse Wort Triage, das ist unser Alltag.

    Prof. Selim Corbacioglu, Chefarzt

    Jeden Tag müssten sie entscheiden, wer am dringlichsten aufgenommen werden muss, erzählt Chefarzt Prof. Selim Corbacioglu. Und wenn sie keinen freien Platz für den Notfallpatienten finden? "Im schlimmsten Fall bedeutet es den Tod des Patienten", so Corbacioglu. Kinder könnten sterben, weil es kein Platz im Krankenhaus für sie gibt? Ein Albtraum. Dabei könnten laut Corbacioglu bis zu 80 Prozent dieser Kinder geheilt werden.
    Regensburg ist kein Einzelfall. Bundesweit müssen kranke Kinder lange Fahrzeiten auf sich nehmen, werden in andere Städte verlegt, wenn sie überhaupt aufgenommen werden. "Die Lage ist höchst dramatisch", so Prof. Florian Hoffmann, Generalsekretär der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).

    Influenza und RS-Virus verschärfen die Lage

    Ein weiterer Grund für die Notlage in den Kliniken: Die grassierende Influenza und die RS-Virus-Welle, die schwere Atemprobleme bei den Kleinsten hervorruft. Seit etwa zwei Wochen sei die Anzahl der Erkrankungen sprunghaft gestiegen und kaum noch zu stemmen, so Ulrich von Both, Kinder-Infektiologe am Haunerschen Kinderspital in München.
    Längst sind auch hier alle Stationen voll. Weil Personal fehlt, können sie auf der Inneren Station 5 statt 18 sowieso nur noch zehn Kinder aufnehmen.
    Einer von ihnen ist Henry. Der Zweijährige kam mit einem Herzfehler auf die Welt. Jetzt hat er sich mit dem RS-Virus infiziert und ist an einer Lungenentzündung erkrankt. Seit Henrys Geburt muss seine Mutter immer wieder bangen, dass ihr Sohn die nötige Behandlung bekommt. Warum die Zustände für kranke Kinder so desolat sind, kann sie nicht begreifen:

    Kinder sind doch unsere Zukunft, die haben doch das ganze Leben noch vor sich, denen muss doch geholfen werden.

    Nicole Frömmingen, Mutter von Patient Henry

    Geringe Ressourcen als Dauerzustand

    Sie müssten schauen, wie sie ihre engen Ressourcen am besten aufteilen, sagt Kinder-Infektiologe von Both. Doch es sei eng, sehr eng. Es komme vor, dass Eltern aus lauter Verzweiflung mit ihren kranken Kindern in der Notaufnahme übernachten. Und wer ein Bett hat, der will ungern gehen.
    Wie bei Anna: Die Zweijährige hat Leukämie, war seit sechs Monaten in der Klinik zur Behandlung. Heute soll sie entlassen werden, doch in die Freude mischt sich auch die Angst ihrer Eltern:

    Wenn Anna zuhause Fieber bekäme, dann wissen wir nicht, ob wir wieder herkommen können

    Felix Grander, Annas Vater

    Die Sorge sei berechtigt, so die behandelnde Oberärztin Vera Binder: "Kinder, die wir seit langem behandeln, können wir derzeit teilweise nicht mehr aufnehmen."

    Corbacioglu: Überdenken des Gesundheitssystems notwendig

    Ein Überdenken des Gesundheitssystems, gerade auch für Kinder, sei zwingend notwendig, so Selim Corbacioglu. Dabei seien der Wegfall der Fallpauschalen in der Kindermedizin und die 300 Millionen Finanzspritze durch das Bundesgesundheitsministerium erste wichtige Schritte.
    Sein größter Wunsch wäre es, Kinder optimal zu versorgen. Denn sie hätten ein Recht darauf, wie der kleine Notfallpatient vom Anruf. Nach langem Hin und Her haben sie in einer anderen Klinik einen Platz für ihn gefunden.

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