Gegen Vertuschung: Missbrauchsopfer radeln zum Papst

    Kampf gegen Vertuschung:Missbrauchsopfer radeln zum Papst

    von Barbara Lueg und Jutta Sonnewald
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    Neun Missbrauchsopfer machen sich von München auf den Weg nach Rom. Sie wollen endlich laut sein, Tabus brechen und die katholische Kirche mit ihrem Leiden konfrontieren.

    Die Gruppe auf Tour zwischen Bayern und Italien
    Neun Missbrauchsbetroffene auf Pilgertour nach Rom.
    Quelle: ZDF

    Es ist Samstag. 8.00 Uhr morgens. Auf dem Münchner Marienplatz reihen sich rote Fahrräder aneinander. Daneben eine Tribüne. Gleich kommt der Oberbürgermeister. Er wird eine Gruppe von Missbrauchsbetroffenen verabschieden, die Großes vorhaben.
    Kilian Semel ist einer von ihnen. Er packt gerade seine Satteltaschen. Semel ist ein kluger, leiser Mann, der zwischen seinem neunten und dreizehnten Lebensjahr von einem katholischen Priester sexuell missbraucht wurde.
    Pfarrer Kilian Semel, Missbrauchsbetroffener und Teilnehmer der Radreise
    Pfarrer Kilian Semel, Missbrauchsbetroffener und Teilnehmer der Radreise
    Quelle: ZDF

    Damals konnte er sich weder wehren noch jemandem anvertrauen, erzählt Semel uns.

    Ich glaube, in der Zeit, Ende der 70er Jahre, hätte man mir als Kind nicht geglaubt. Der Pfarrer war ja eine Persönlichkeit, angesehen, gottgleich.

    Kilian Semel, Missbrauchsopfer

    Begegnungen mit Verantwortlichen auf dem Weg zum Papst

    An diesem Tag bricht er mit anderen Betroffenen zu einer Reise auf, die es so noch nie gab. Eine Pilgertour quer durch Bayern, Österreich und Italien. Das Ziel: eine Privataudienz beim Papst in Rom. Unterwegs suchen die Missbrauchsopfer Gespräche mit Kirchenvertretern, Präventionsbeauftragten und anderen Betroffenen.
    Fahrradtruppe vom Missbrauchsopfern der katholischen Kirche auf dem Weg nach Rom
    Eine Radtour, die es so noch nicht gab: Missbrauchsopfer der katholischen Kirche radeln zum Papst nach Rom - für mehr Aufklärung und bessere Prävention. 08.05.2023 | 2:02 min
    Erste Station: Kloster Schäftlarn, in den 60er Jahren Schauplatz schwerer sexueller Verbrechen. Pädophile Mönche und ein Lehrer trieben hier jahrelang ihr Unwesen.

    Semel: "Wollte nicht, dass Täter Macht über mich hat"

    Semel und die anderen Betroffenen treffen hier Abt Petrus. Für Semel sind solche Begegnungen immer noch ein seelischer Spagat, denn der 56-Jährige ist selbst Priester. Erst vor zwei Jahren hat er seine Geschichte öffentlich gemacht.
    Warum er sein Leben ausgerechnet der Institution in den Dienst stellt, die ihm so viel Leid zugefügt hat? Semel muss nicht lange überlegen: "Natürlich gibt es da die Wut und den Zorn. Aber ich wollte nicht, dass der Täter Macht über mich hat."

    Ich wollte Seelsorger werden, es besser machen und den Menschen in ihrem Glauben Sicherheit und Geborgenheit geben.

    Kilian Semel, Priester

    Kirchenbild durch Missbrauchsskandale erschüttert

    Es geht weiter über den Brenner nach Südtirol. An diesem Tag muss die Pilgergruppe mehr als einhundert Kilometer zurücklegen. Nach heftigen Regengüssen hat sich der Himmel endlich wieder aufgeklart.
    Die Gruppe auf Tour zwischen Bayern und Italien
    Mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Privataudienz bei Papst Franziskus.
    Quelle: ZDF

    In Bozen trifft die Wallfahrtsgruppe den eigens aus München angereisten Kardinal Marx und seinen italienischen Amtskollegen Bischof Muser. Es ist keine leichte Begegnung, denn viele Betroffene ringen bis heute mit der Kirchenspitze.
    Es geht um mangelnde Aufklärung und finanzielle Entschädigung. Semel führt mit beiden Kardinälen intensive Gespräche auf Augenhöhe.

    Ich nehme Kardinal Marx seine Betroffenheit ab. Ich glaube, dass sein Kirchenbild durch die Missbrauchsskandale zutiefst erschüttert ist.

    Kilian Semel, Missbrauchsopfer

    Lang vermisste Anerkennung und ehrliches Mitgefühl

    Bei der anschließenden gemeinsamen Andacht kommt es zu einem berührenden Moment: Betroffene und Bischöfe sprechen Hand in Hand das Vaterunser.
    Abendgebet in Bozen mit Kardinal Marx, hier im Bild mit Richard Kick, Missbrauchsbetroffener
    Abendgebet in Bozen mit Kardinal Marx (rechts), Hand in Hand mit Richard Kick, Missbrauchsbetroffener.
    Quelle: ZDF

    Es ist wie ein Dammbruch. Tränen fließen. Semel, Kardinal Marx und andere Betroffene liegen sich in den Armen. Es ist diese Anerkennung, dieses ehrliche Mitgefühl, das sie so lange vermisst haben und das ihnen Hoffnung gibt.

    Betroffene fordern Aufarbeitung vom Papst

    Am nächsten Tag geht es weiter Richtung Rom, mit einem Geschenk und einer Botschaft im Gepäck: die Skulptur eines gebrochenen Herzens aus Gitterstäben und einen Brief an Papst Franziskus, den Semel stellvertretend für die Betroffenen verfasst hat.
    Darin fordern er und seine Mitstreiter den Pontifex auf, alles zu tun, damit sexueller Missbrauch künftig verhindert und aufgearbeitet wird - in allen Winkeln der Weltkirche.
    Jutta Sonnewald und Barbara Lueg sind Reporterinnen des ZDF-Landesstudios Bayern.

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