Psychologe: "Austritt kann extreme Lebenskrise auslösen"

    Interview

    Experte zu Zeugen Jehovas:"Austritt kann extreme Lebenskrise auslösen"

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    Der Hamburger Amokläufer ist ein Ex-Zeuge Jehovas. Der Verlust einer strikten, aber Halt bietenden Gemeinschaft könne, so Religionsexperte Utsch im ZDF, "starken Stress" auslösen.

    ZDFheute: Der Täter von Hamburg war offenbar ein ehemaliger Zeuge Jehovas und hegte anscheinend eine besondere Wut auf religiöse Anhänger, besonders aber auf die Zeugen Jehovas. Er hat die Gemeinschaft "freiwillig, aber nicht im Guten verlassen." Wie schätzen Sie das alles ein, Herr Professor Utsch? 
    Professor Michael Utsch: Naja, der Glaube an eine höhere Wirklichkeit oder die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft kann sehr stabilisierend wirken und viel Unterstützung bieten im Leben. Aber der Glaube, die Religion ist, fähig zu ganz schrecklichen Taten. Seit 15 Jahren wird sexualisierte Gewalt sehr genau angeschaut in Religionsgemeinschaften. Wir müssen also schauen, was Religionsgemeinschaften dazu beitragen.
    Und Aussteigerpersonen, Aussteigewilligen, wird es nicht leicht gemacht. Es gibt genug ehemalige Mitglieder, die geächtet werden und die das als einen starken seelischen Stress empfinden und meine erste Vermutung ist natürlich auch, dass er enttäuscht ist, dass er wütend gewesen ist und dass es im Affekt dann zu so einer schrecklichen Tat gekommen ist
    ZDFheute: Ich glaube, es ist wichtig zu trennen: Der Täter als Einzelperson und das Thema Aussteiger bei den Zeugen Jehovas. Denn der Ausstieg bei den Zeugen Jehovas alleine macht einen natürlich nicht zum Täter.
    Utsch: Man fragt sich ja immer, wenn so eine schreckliche Tat passiert, was können die Motive gewesen sein. Das war ein studierter Mann, wie ich gehört habe, der unauffällig gelebt hat, der in einem normalen Umfeld berufstätig war. Dass er aber dann in eine Gemeinschaft zurückgeht, wo er früher mal zuhause war und wo er auch eine spirituelle Orientierung bekommen hat - das gibt natürlich zu denken.

    ... ist Psychologe, Psychotherapeut und Religionspsychologe. Utsch studierte evangelische Theologie und Psychologie, sowie Diplom-Psychologie in Bonn. Er arbeitete als Suchttherapeut und Psychotherapeut an einer psychosomatischen Klinik.

    Seit 1997 arbeitet Utsch bei der evangelischen Zentralstelle für Weltansschauungsfragen in Berlin und ist seit 2013 Honorarprofessor an der pietistisch geprägten Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg.

    Es gibt eine neuere Studie von der Universität Zürich von einer Stressforscherin, die ehemalige Mitglieder aus christlich fundamentalistischen Gruppen befragt hat. Und bei über 600 Befragten hat sich eben herausgestellt, dass dieser Glaubenswechsel oder dieser Austritt eine extreme Lebenskrise hervorgerufen hat. Eine Gemeinschaft, die früher Halt gegeben hat, Orientierung, war vielleicht in einer gewissen Situation ganz hilfreich. Aber Jehovas Zeugen sind eben sehr rigide, da ändert sich überhaupt nichts.
    Im Vergleich zu anderen christlichen Sondergemeinschaften bewegt sich da gar nichts. Kritiker werden am schnellsten mit Gerichtsverfahren behandelt. Sie sind also sozusagen nicht lernfähig. Und das beklagen viele ausgestiegene ehemalige Mitglieder, dass sie dort auf eine sehr rigide, autoritäre Struktur stoßen, die nicht lernfähig ist.
    ZDFheute: Man kennt ja bekannte Zeugen Jehovas: Michael Jackson zum Beispiel, Serena und Venus Williams, Naomi Campbell sind in diesem Glauben erzogen worden, soweit man weiß. Es gibt weltweit 8,7 Millionen Mitglieder. Aber nicht nur der Täter war Zeuge Jehovas, auch die Opfer. Wie ist der Zusammenhalt in dieser Gemeinschaft?

    Sekte oder Religionsgemeinschaft
    :Wer sind die Zeugen Jehovas?

    Sie sind umstritten, gelten als Sekte und haben doch den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts: Die Zeugen Jehovas. Was steckt dahinter?
    Ein Mitglied der Zeugen Jehovas hält Ausgaben des "Wachturm" und "Erwachet". Archivbild
    Utsch: Die sind ursprünglich angetreten als ernste Bibelforscher und wollten also die Bibel sehr wortwörtlich auslegen und sind dann aber sehr schnell in so ein Denken verfallen, haben bestimmte Verse aus der Bibel rausgenommen, dass das Ende bald nah ist. Sie haben versucht, das Ende dieser Welt zu berechnen.
    Es wurden also Jahreszahlen aufgrund von Prophezeiungen errechnet - und das war erst 1874. Und dann, als es trotzdem mit unserer Erde noch weiter ging, wurden andere Jahreszahlen berechnet. Das ist eine Gruppe, die schon von einem baldigen Weltende ausgeht. Und wenn man jetzt die aktuellen Entwicklungen sich vor Augen hält: Krieg in Europa, Epidemien, Seuchen, Naturkatastrophen das sind ja alles gesellschaftliche Faktoren, die auch so eine Endzeitstimmung unterstützen. Das kann viele Menschen verunsichern, ängstigen. Und dann kann so eine Gemeinschaft Trost stiften, weil man sagt, das wahre Leben kommt erst im Jenseits, die Welt hier ist schlecht.
    Sophie Jones war 18 Jahre alt, als sie sich entschied, von den Zeugen Jehovas auszusteigen. Ihr neues Leben musste sie erst finden:
    Und dieser Dualismus, diese Trennung zwischen Gut und Böse, das wird bei Jehovas Zeugen sehr ernst genommen. Man soll den Kontakt mit dem Bösen, mit der verseuchten Welt, von Satan beherrschten Welt meiden. Und das kann auch zu inneren Spaltungsprozessen führen. Gerade seelisch instabile Menschen, die dann auch auf so eine Lehre treffen, können darunter letztlich Schaden erleiden. Und da muss man genau hinschauen, damit nicht solche Taten weiter passieren.
    Und ein Ergebnis dieser Studie in Zürich ist eben auch, dass die professionelle Begleitung von ehemaligen Mitgliedern verbessert werden muss. Es ist interessant, der "Wachturm", das ist ja die große Zeitschrift der Zeugen Jehovas. Die Nummer eins in diesem Jahr hat das Thema "Psychische Probleme". Und immerhin wird dort schon gesagt, wenn man eine seelische Erkrankung hat, soll man professionelle Hilfe suchen.
    Aber andererseits wird auch gesagt, es ist möglich, ein Leben ohne innere Konflikte und ein vollkommen glückliches Leben zu führen, wenn man Mitglied bei Jehovas Zeugen ist. Und so ein Versprechen, dass ein Leben ohne innere Konflikte und Leiden möglich ist, das ist natürlich utopisch. Und das stimmt nicht aus theologischer Sicht und auch nicht aus psychischer Sicht. 
    Das Interview führte ZDFheute live-Moderatorin Christina von Ungern-Sternberg.
    Quelle: ZDF

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