Silvester-Gewalt: "Debatte auf Migration heruntergebrochen"

    Interview

    Gewalt an Silvester:"Debatte auf Migration heruntergebrochen"

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    Nach Silvester wird über den Zusammenhang von Gewalt und Migrationshintergrund diskutiert. Warum das zu kurz gedacht ist und Probleme kaum löst, erklärt Psychologe Frank Asbrock.

    Ein Polizeiauto fährt vor dem Brandenburger Tor mit Blaulicht durch die Menschenmenge.
    Unter anderem in Berlin musste die Polizei an Silvester vielerorts einschreiten.
    Quelle: Christophe Gateau/dpa

    ZDFheute: Mit Blick auf die Silvester-Ausschreitungen spricht der Pressesprecher der Berliner Feuerwehr von "einer ganz neuen Dimension von Aggressivität gegen Einsatzkräfte". Nimmt die Gewaltbereitschaft gegen Einsatzkräfte tatsächlich zu? 
    Frank Asbrock: Wenn man sich die Zahlen anschaut zu Straftaten gegen Einsatzkräfte, dann kann man durchaus eine Zunahme beobachten in den vergangenen Jahren. Wir haben aber erst seit 2018 eine relativ verlässliche Erfassung wegen einer neuen Gesetzeslage. Deswegen kann man das nur bedingt längerfristig vergleichen. Grundsätzlich sieht man aber: Bedrohungen haben stärker zugenommen, einfache Körperverletzungen hingegen abgenommen.

    Sachsen, Chemnitz: Frank Asbrock, Direktor des Zentrums für kriminologische Forschung Sachsen (ZKFS) sitzt im Büro des Vereins in Chemnitz.
    Quelle: Hendrik Schmidt/dpa

    ... ist Professor für Sozialpsychologie an der TU Chemnitz und Direktor des Zentrums für kriminologische Forschung Sachsen e.V.

    An Silvester sehen wir aber eine besondere Situation, in der Gewalt viel leichter eskalieren kann als in anderen Situationen, weil eben viele Leute zusammenkommen, weil hier sehr viel Alkohol im Spiel ist, weil eine ausgelassene Stimmung herrscht. Das trägt alles dazu bei, dass die Lage unter bestimmten Umständen eskalieren kann, wenn es zu einer Ansammlung von vielen Leuten kommt. 
    ZDFheute: Was haben denn die Menschen, die Rettungskräfte angreifen, gemein? 
    Asbrock: Was auffällt, ist, dass solche Gewalt häufig bei größeren Ereignissen eskaliert, also wie beispielsweise Silvester, wenn viele Menschen zusammenkommen und Möglichkeiten gegeben sind, aus einer gewissen Anonymität heraus zu handeln, zum Beispiel auch bei Gewalt gegen die Polizei in Fußballstadien oder bei Demonstrationen wie den Montags-Spaziergängen etwa hier in Ostdeutschland. Dabei entstehen Gruppendynamiken - auch zwischen Handelnden und der zuschauenden oder anstachelnden Menge drumherum. 
    Zudem spielen oft auch individuelle Faktoren eine Rolle: Die Gewalt geht in der Regel von jungen Männern aus. Das hat viel mit Männlichkeitsidealen zu tun und wie Männer sich benehmen sollten.
    ZDFheute: Einige Beobachter*innen nennen den Migrationshintergrund und gescheiterte Integration als Hauptursache ...
    Asbrock: Diese Debatte auf Migrant*innen zu drehen, ist eine sehr einfache Methode, von gesamtgesellschaftlichen Problemen und Mechanismen von Gewalt gegen Einsatzkräfte abzulenken. 

    Nach den Silvesterkrawallen in Berlin hat die Polizei weitere Informationen zu den Tatverdächtigen veröffentlicht. Demnach wurden im Zusammenhang mit den Ausschreitungen 145 Menschen vorläufig festgenommen, die meisten davon Männer, wie ein Polizeisprecher am Dienstagabend sagte. Alle Verdächtigen seien nach Abschluss der polizeilichen Maßnahmen wieder auf freien Fuß gekommen. Es seien insgesamt 18 verschiedene Nationalitäten erfasst worden. 45 der Verdächtigen hätten die deutsche Staatsangehörigkeit. Danach folgten 27 Verdächtige mit afghanischer Nationalität und 21 Syrer. Die Zahlen seien auch immer noch als vorläufig anzusehen.

    Wegen der Krawalle seien insgesamt 355 Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet worden. Ermittelt werde unter anderem wegen Landfriedensbruchs, Angriffs auf und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Rettungskräfte, gefährlicher Körperverletzung und Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion.

    Es ist nicht so, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer ethnischen Herkunft eher zu Gewalt neigen. Aber für manche Gruppen ist es hilfreich, für Probleme einen sogenannten Sündenbock zu finden, dem sie ein Problem zuschreiben können.

    Bei Kriminalität wird sehr schnell geguckt, ob Migrant*innen dann eventuell vermehrt dazu neigen, um dann die Probleme dieser vermeintlichen Fremdgruppe zuzuschreiben.

    Frank Asbrock

    Es wird suggeriert, man könne das Problem dadurch lösen, dass wir die Migrant*innen rausschmeißen oder sie gar nicht erst ins Land lassen. Dann bietet man eine vermeintlich einfache Lösung für komplexe Fragen.
    Dabei müssen Ereignisse wie die Silvesternacht durch längerfristiges Herangehen und längerfristige Präventionsarbeit gelöst werden. Ganz konkret in diesem Fall, dass darüber nachgedacht werden müsste, privates Böllern und privates Feuerwerk - wie das restliche Jahr über auch - zu verbieten. Das würde zumindest dem konkreten Problem entgegenwirken, dass Rettungskräfte mit Böllern beschossen werden.
    ZDFheute: Der Migrationshintergrund spielt bei solchen Taten also keine Rolle? 
    Asbrock: Migrationshintergrund ist ja kein Merkmal, was die damit gemeinten Menschen vereinheitlicht. Migrationshintergrund bedeutet, dass mindestens ein Elternteil oder man selbst aus einem anderen Land nach Deutschland gekommen ist.

    Aber alle Menschen, die sich darunter zusammenfassen lassen, sind ja äußerst divers.

    Frank Asbrock

    Ich weiß gar nicht, was das gemeinsame Merkmal sein sollte, wenn jemand aus einem asiatischen, afrikanischen oder amerikanischen Land hierher einwandert. Außer, dass diese Person eben - gemäß einer bestimmen Definition nicht "deutsch" ist - oder einen Migrationshintergrund hat.
    Deswegen halte ich das für eine Reduzierung auf ein sichtbares Merkmal, also sichtbar im Sinne von: Man sieht diesen Leuten eventuell an, dass sie einen Migrationshintergrund haben. Aber ansonsten gibt es da keine Gemeinsamkeit zwischen diesen Leuten. Man müsste vielmehr gucken, was dahinter liegen könnte. Also welches Merkmal sollte dazu führen, dass Menschen mit einem Migrationshintergrund bestimmte Eigenschaften haben, die bei Menschen ohne Migrationshintergrund nicht vorhanden sein sollten. 
    ZDFheute: Dennoch liegt der Fokus in der öffentlichen Debatte auf der Rolle von Migranten.
    Asbrock: Wenn Debatten zum Thema Kriminalität oder zu den Ausschreitungen an Silvester immer wieder auf Herkunft und Migration heruntergebrochen werden, verschiebt das den Diskurs in Debatten auf die Behauptung, das Problem könnte eventuell an der Herkunft liegen. Wir erleben das ja in gesellschaftlichen Debatten. Es wird immer normaler, dass Aussagen sich in eine politisch rechte Richtung bewegen. Das sind nicht unbedingt Mehrheitsmeinungen, aber dadurch, dass Menschen, die auch eine gewisse Reichweite haben, so was sagen und in sozialen Netzwerken mit vielen Followern teilen, wird das als Teil der Debatte wahrgenommen.

    Und Menschen denken, wenn so was zu sehen, zu hören und zu lesen ist, eher darüber nach, dass da vielleicht etwas dran sein könnte, auch wenn das gar keine Grundlage hat.

    Frank Asbrock

    Das wird als eine mögliche, legitime Meinung hingenommen und beeinflusst die Debatten. 
    Ich will damit überhaupt nicht sagen, dass man nicht über Ursachen von Kriminalität sprechen sollte und nicht in verschiedene Richtungen überlegen sollte. Aber diese Schlüsse kommen so schnell, dass wenig dafür spricht, dass wirklich nach den gesellschaftlichen Ursachen gesucht wird, sondern versucht wird, eine Gruppe zu stigmatisieren, die Schuld daran sein soll.
    Das Interview führte Katja Belousova

    Rechtslage zu Krawallen
    :Silvester-Chaos: Welche Strafen sind möglich?

    Nach den gewaltsamen Übergriffen auf Rettungskräfte in der Silvesternacht werden Rufe nach einem harten Durchgreifen lauter. Welche Strafen gelten und welche Verbote sind möglich?
    von Jan Henrich
    Berlin: Feuerwehrmänner löschen an der Sonnenallee einen Reisebus, der von Unbekannten angezündet worden war.
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