Türkei vor der Wahl: Die Wut nach dem Erdbeben wächst

    Türkei vor der Wahl:Die Wut nach dem Erdbeben wächst

    von Narîn Şevîn Doğan und Jan Fritsche
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    Die Türkei wählt nach dem verheerenden Erdbeben. Präsident Erdoğan will gewinnen - doch es ist auch eine Abstimmung über sein Krisenmanagement. Das sehen viele als gescheitert.

    Die ersten Helfer*innen sind schnell da nach dem Erdbeben im Südosten der Türkei. Sie sind Freiwillige, die aus allen Teilen des Landes kommen. Von den großen türkischen Hilfsorganisationen wie der Katastrophenschutzbehörde AFAD oder dem Roten Halbmond gibt es in den ersten Tagen aber kaum eine Spur.
    "Warum kam die Hilfe in der Provinz Hatay so spät an? Die Hilfen erreichen die Gegenden nicht. Es ist alles schlecht organisiert.", sagt Nazire Gülenay, eine Betroffene in Iskenderun kurz nach den schweren Beben Anfang Februar. Sie fühlt sich im Stich gelassen. Die Regierung hätte nicht schnell genug gehandelt.

    Sowohl bei AFAD wie auch beim Roten Halbmond gab es keine Führungskräfte mit der nötigen Qualifikation oder genug Erfahrung. Das zeigt, dass es in der Türkei eine Willkürherrschaft gibt.

    Suat Özçelebi, Politikwissenschaftler

    Politikwissenschaftler Suat Özçelebi sieht das Problem des Katastrophenmanagements bei Erdoğan selbst. In seinem Präsidialsystem müsse jede Entscheidung von ganz oben abgesegnet werden. Hätten die örtlichen Zuständigen die nötigen Entscheidungsbefugnisse gehabt, wäre der Verlust an Menschenleben nicht so hoch gewesen, meint Özçelebi.
    Viele Menschen in der Türkei sind wütend auf Präsident Erdogan, fühlen sich im Stich gelassen. Ob er im Mai wiedergewählt wird, ist völlig offen:

    Erdoğan verspricht nach dem Erdbeben den schnellen Wiederaufbau

    Über 50.000 Menschen sind nach bisherigen Informationen beim Erdbeben in der Türkei ums Leben gekommen. Noch immer wird nach Vermissten gesucht. 230.000 Gebäude wurden nach Angaben der türkischen Regierung zerstört oder können nicht mehr bewohnt werden. Mehr als eine Million Menschen leben in Zelten, und das nach mehr als einem Monat nach den schweren Beben. Währenddessen macht Präsident Recep Tayyip Erdoğan große Versprechen.

    Unser Ziel ist es, den größten Teil der Häuser für die Erdbebenopfer innerhalb eines Jahres fertigzustellen.

    Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Türkei

    So wirbt er für sich und seine Politik. Denn voraussichtlich am 14. Mai entscheiden die Menschen in der Türkei darüber, ob er weiter an der Macht bleiben darf oder nicht. Politikwissenschaftler Özçelebi sieht darin die Wahlkampf-Taktik Erdoğans. So versuche er die Zweifel an seiner Person, die durch die Katastrophe entstanden seien, in Zuspruch umzuwandeln.
    CHP-Chef Kilicdaroglu soll für das Oppositionsbündnis gegen Präsident Erdogan bei der Wahl antreten. Wofür steht er und wie groß ist seine Chance, die Ära Erdogan zu beenden?

    Herausforderer Kılıçdaroğlu kritisiert Erdoğans Krisenmanagement

    Sein Herausforderer um das Amt des Präsidenten ist Kemal Kılıçdaroğlu von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP. Er tritt für ein Sechsparteien-Oppositionsbündnis an. Auch er macht den amtierenden Präsidenten Erdogan für das verheerende Ausmaß des Bebens verantwortlich:
    "Sie waren in allen möglichen Dingen untätig, so wie hier auch. Sie haben wirklich keine Ahnung, wie man einen Staat regiert. Ich sage es ganz offen: Wenn jemand hauptverantwortlich für diese Folgen ist, dann ist es Erdogan."

    Es ist diese Regierung, die das Land 20 Jahre lang nicht auf ein Erdbeben vorbereitet hat.

    Kemal Kılıçdaroğlu, Präsidentschaftskandidat

    Kurdische Bevölkerung fühlt sich vernachlässigt

    Die Opposition äußert ihre Kritik an der Person Erdoğan und seiner Partei AKP nach dem großen Beben und mit Blick auf die Wahlen laut. Die besonders betroffenen Regionen im Südosten des Landes sind überwiegend kurdisch und alevitisch. Kurdinnen und Kurden fühlen sich besonders vernachlässigt in der Krise.
    Deshalb helfen sie sich selbst. "Das System möchte nicht, dass die Freiwilligen diese Arbeit machen. Es sieht uns als eine Alternative an und ist geschockt. Weil man nicht will, dass das Volk sieht, wie das staatliche System zusammenbricht", berichtet ein HDP-Politiker in der kurdischen Stadt Adıyaman.
    ZDF-Korrespondentin Anne Brühl berichtet über Nachwirkungen des Erdbebens in der Türkei.
    14.03.2023 | 6:31 min
    Tagelang warteten die Menschen nach dem Erdbeben in der in der türkisch-syrischen Grenzregion auf staatliche Unterstützung. Was das für die türkische Politik und die bevorstehenden Wahlen bedeutet:

    Wahlen in der Türkei: Das Land ist gespalten

    Und doch unterstützen viele Menschen nach wie vor die Politik des türkischen Präsidenten. Sie denken, dass Präsident Erdoğan keine Fehler bei der Bewältigung der Krise gemacht hat.

    Unser Staat ist wunderbar. Unser Staat hilft uns bei solchen schwierigen Situationen stets. Das hat man gesehen bei dem Erdbeben 1999 und 2011 und so wie man bei allen Naturkatastrophen gesehen hat, so unterstützt uns unser Staat auch bei diesem Erdbeben.

    Furkan Işık, Bewohner in Adıyaman

    Eines wird deutlich: Die Türkei ist tief gespalten. Während viele ihren Präsidenten feiern, hinterfragen die Opposition und ihre Anhänger*innen die Reaktion Erdoğans auf die Erdbebenkatastrophe, aber auch die jahrzehntelange Vernachlässigung von Investitionen in den Erdbebenschutz.

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