Besetzte Gebiete: Ukrainer unter Kollaborationsverdacht

    Exklusiv

    Von Russland besetzte Gebiete :Ukrainer unter Kollaborationsverdacht

    Sebastian Ehm, ZDF-Korrespondent in Moskau
    von Sebastian Ehm
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    Kollaborieren Ukrainer mit Russen? Dieser Frage ist ein Recherche-Netzwerk, zu dem auch das ZDF gehört, nachgegangen. Viele müssen sich vor Gericht verantworten.

    Ukrainer unter Kollaborationsverdacht
    Ukrainer, die aus den besetzten Gebieten geflohen sind, geraten unter Kollaborationsverdacht. 16.11.2023 | 2:21 min
    Die Anwältin Antonina Schostak hat nicht viel Platz in ihrem Büro in Saporischschja. Die Akten und Bücher stapeln sich. Zur Zeit arbeitet sie rund um die Uhr. Sie vertritt Ukrainer aus den besetzten Gebieten. Viele, die von dort geflohen sind, müssen sich nun vor ukrainischen Gerichten verteidigen. Der Vorwurf: Kollaboration mit den russischen Besatzern.
    Doch Antonina Schostak sagt, die Gerichte hätten Schwierigkeiten, diese Fälle überhaupt ordentlich zu bearbeiten. "Wir haben mittlerweile viele Fälle, in denen die Behörden nicht genau unterscheiden, wann eine Person etwas freiwillig getan hat, oder unter physischem oder psychischem Druck gezwungen wurde", so die Rechtsanwältin.

    Denn dann wären sie strafrechtlich nicht verantwortlich.

    Antonina Schostak, Rechtsanwältin

    In einer mehrmonatigen Recherche haben über 20 Reporter und Journalisten öffentlich-rechtlicher Sender der European Broadcast Union (EBU) Interviews und Informationen zur "Russifizierung" in den von Russland völkerrechtswidrig annektierten Gebieten in der Ukraine zusammengetragen. In zahlreichen Interviews berichten Betroffene vom brutalen Vorgehen der russischen Besatzer. 

    Das investigative Recherche-Netzwerk der EBU, dem auch das ZDF angehört, deckt außerdem auf, dass immer mehr Ukrainer wegen Kollaborationsverdacht angeklagt werden. Diese Verfahren sind unter Anwälten umstritten, weil die Angeklagten sich oft noch in den besetzten Gebieten befinden und in Abwesenheit verurteilt werden.

    Menschen werden per Telegram öffentlich an den Pranger gestellt

    Einer ihrer Mandanten ist ein Landwirt, der aus dem besetzten Teil nach Saporischschja geflohen ist. Er wurde wegen Kollaboration verurteilt. Seinen Namen will er nicht öffentlich nennen. Kollaborateure sind in der Ukraine nicht gut gelitten. Es gibt Telegram-Seiten, in denen Menschen mit Bildern öffentlich an den Pranger gestellt werden, weil Behörden gegen sie ermitteln.
    Der Vorwurf im Fall des ukrainischen Landwirts: Er soll den Russen sein Getreide und seine Erntemaschinen überlassen haben. Er war vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine Mitglied in einer prorussischen Partei. Doch er beteuert, er habe den Russen nicht geholfen, sei sogar selbst bei ihnen in Einzelhaft gewesen. Die Beweislage ist dünn.

    Hunderte Ermittlungsverfahren in Saporischschja

    Es gab wohl anonyme Hinweisgeber, die ihn in Briefen an die Staatsanwaltschaft beschuldigten. Nichts habe man beweisen können, sagt er. "Dafür haben sie mich ins Gefängnis gesteckt. Ich habe den Russen nichts gegeben, sie haben sich einfach genommen, was sie brauchten", sagt der Landwirt.
    Doch wie lässt sich beweisen, ob Menschen freiwillig oder aus Furcht um das eigene Leben gehandelt haben? Oft ein kaum lösbares Dilemma. Laut Regionalstaatsanwaltschaft sind zurzeit allein in Saporischschja 13 Kollaborateure angeklagt, in Hunderten Fällen werde noch ermittelt.
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    "Russifizierung" in besetzten Gebieten: Unterricht nach Putins Vorstellung

    Was genau in den teilweise seit 20 Monaten besetzten Gebieten passiert, lässt sich nur schwer überprüfen. Klar ist: Die sogenannte Russifizierung schreitet in allen Lebensbereichen voran. Sichtbar vor allem in Schulen. Dort steht jetzt mit neuen Büchern die russische Lesart der Geschichte auf dem Lehrplan.
    Öffentlichkeitswirksam verbreitet der Kreml schon seit Monaten Bilder, in denen Ukrainer der russischen Verfassung die Treue schwören und russische Pässe annehmen. Ob freiwillig oder unter Zwang bleibt oft unklar.
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    Wer russische Pässe ablehnt, bekommt Probleme

    Es ist eine Wahl des kleineren Übels. Mehrere Menschen, mit denen das EBU Investigative Journalism Network gesprochen hat, berichten von der schwierigen Situation in den besetzten Gebieten. Wer keinen russischen Pass annimmt, bekommt Probleme. Die Besatzer enthalten ihnen beispielsweise die Rente oder die medizinische Versorgung vor.
    Doch mit Pass gerät man in der Ukraine schnell unter Kollaborationsverdacht. In Kiew betont man, dass sie niemanden als Kollaborateur betrachten, nur weil er einen russischen Pass angenommen habe. Doch die Angst vor dem Stigma ist da. Für den geflohenen Landwirt in Saporischschja ist eines klar.

    Jeder, der geblieben ist, wird beschuldigt, alle als Kollaborateure bezeichnet. Man wird fragen: 'Warum bist du geblieben und nicht gegangen?'

    Wegen Kollaboration verurteilter Landwirt

    Es sind Fragen, denen sich die Ukraine irgendwann stellen muss. Wie umgehen mit den Menschen in den besetzten Gebieten, die geblieben sind, die nicht fliehen wollten und nun auch einen russischen Pass besitzen.
    Sebastian Ehm ist Korrespondent für Russland, den Kaukasus und Zentralasien. Der Text ist Ergebnis einer Recherche des EBU Investigative Journalism Network, zu dem auch das ZDF gehört.
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