Nahost-Konflikt: "Es braucht mutige Politiker"

    Interview

    Meron Mendel zum Nahost-Konflikt:"Braucht mutige Politiker auf beiden Seiten"

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    Wie geht's weiter im Nahost-Konflikt? Gibt es noch Hoffnung auf eine Lösung? Nur nach dem Ende der Hamas und dem Rücktritt der Netanjahu-Regierung, sagt Professor Meron Mendel.

    Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank
    Professor Meron Mendel ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank
    Quelle: imago

    ZDFheute: In Ihrem Buch "Über Israel reden - eine deutsche Debatte" wenden Sie sich gegen ein Schwarz-Weiß-Denken. In Deutschland gehe es häufig um die Frage, auf welcher Seite man stehe, auf der israelischen oder der palästinensischen. Ihr Buch kann als Plädoyer für mehr Differenzierung verstanden werden. Es ist im März 2023 erschienen. Die Massaker der Hamas am 7. Oktober sind eine Zäsur. Welche Gültigkeit haben Ihre Worte heute noch?
    Meron Mendel: Meine Kritik galt der Polarisierung zwischen den beiden Lagern in der deutschen Debatte: 'Pro-Israel' einerseits, 'Pro-Palästina' andererseits. Es ist festzustellen, dass bei vielen Menschen dabei die Urteilskraft völlig aussetzt, zugunsten der vollständigen Loyalität zu einem Lager. Diese Problematik zeigte sich nach dem 7. Oktober deutlicher denn je.

    Meron Mendel

    ... ist Historiker, Publizist, Pädagoge. Professor für Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Direktor der Bildungsstäte Anne Frank Frankfurt am Main.

    Meron Mendel wuchs in einem Kibbuz auf, studierte in Haifa und in München Pädagogik und Jüdische Geschichte, promovierte in Frankfurt am Main.

    Als junger Soldat im besetzten Hebron suchte er das Gespräch mit jüdischen Siedlerkindern, demonstrierte mehrmals gegen die rechte Politik Netanjahus und auch seine Arbeit als Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Deutschland ist teilweise von dem Wunsch eines friedlichen Israels geprägt. 

    In seinem Buch "Über Israel reden – Eine deutsche Debatte", das im März 2023 erschienen ist, plädiert er für eine differenzierte Debatte über den Nahost-Konflikt. Der 7. Oktober 2023 hat alles verändert, doch Mendels Anspruch, Brücken zu bauen, bleibt.

    Mich hat erschreckt, dass Menschen, die sich für die Menschenrechte der Palästinenser einsetzten, nicht in der Lage waren, den brutalen Mord an israelischen Babys, Kindern, Frauen und Männern, die Gruppenvergewaltigungen an Frauen und die Folter der Hamas zu kritisieren. Stattdessen gab es von Beginn an Relativierungen und Bagatellisierung. Die Täter wurden als Freiheitskämpfer glorifiziert.
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    Andererseits scheint auf der pro-israelischen Seite aktuell die schlimme Situation für die Zivillisten in Gaza auf Empathielosigkeit zu stoßen. Mein Plädoyer war immer, man sollte sich gegen die fundamentalistischen Kräfte auf beiden Seiten stellen.

    Wirklich pro-israelisch und pro-palästinensisch zu sein, würde bedeuten, die friedlichen Kräfte auf beiden Seiten zu unterstützen.

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    ZDFheute: Sie beklagen Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber den Terror-Opfern und Geiseln des 7. Oktober. Antisemitische Straftaten in Deutschland haben deutlich zugenommen, es gibt auf deutschen Straßen offenen Hass gegen Juden. Was ist da gewachsen, was niemand in diesem Ausmaß geahnt hat oder ahnen wollte?
    Mendel: Diese Bilder von unverhohlenem Judenhass auf Pro-Palästina-Demos haben wir schon bei zurückliegenden Eskalationen zwischen Israel und der Hamas, wie 2014 und 2021, gesehen. Schon damals wurde vor der Synagoge in Gelsenkirchen 'Scheißjuden' skandiert und in Berlin wurde die Parole 'Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein' gerufen.
    Ich bin immer wieder erstaunt, wie schnell das Problem des Judenhasses in diesen Kreisen ad acta gelegt wird, sobald die Situation dort wie hier sich etwas beruhigt und das Interesse von Politik und Öffentlichkeit nachgelassen hat. Das Problem bleibt aber unterschwellig da und kann jeden Augenblick wieder auftreten. Wir müssen deshalb mit Bildung gegen Antisemitismus viel mehr und ganz gezielt in muslimische und migrantische Milieus hineinwirken und auch präsenter im virtuellen Raum, in den Sozialen Medien sein.
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    ZDFheute: In Israel nimmt die Kritik an der "Regierung Netanjahu" zu. Sein Sicherheitsversprechen wurde gebrochen, zudem gibt es auch unter Intellektuellen zunehmend Kritik. Der Historiker Omer Bartov sagt, Israel wende exzessiv und unverhältnismäßig Gewalt an und warnt vor einer kollektiven Bestrafung der Zivilisten in Gaza. Teilen Sie diese Positionen?
    Mendel: Mich machen die Bilder der Zerstörung in Gaza unendlich traurig und fassungslos. Ich bin kein Militärexperte. Es fällt mir jedoch schwer zu glauben, dass jeder einzelne Bombenangriff ganz gezielt nur gegen die Hamas gerichtet ist. Aber man muss auch sehen, dass Israel vor einem unlösbaren Problem steht und moralisch, politisch und militärisch mit kaum lösbaren Dilemmata zu tun hat: Wie lässt sich die Hamas besiegen und gleichzeitig die palästinensische Zivilbevölkerung schützen?
    Die Hamas nutzt die Zivilisten als menschliche Schutzschilde, baut ihr Hauptquartier unter dem größten Krankenhaus in Gaza. Wenn am Ende dieses Krieges die Hamas weiter in Gaza an der Macht bleibt, wäre das nicht nur für die Israelis, sondern auch für die Palästinenser eine sehr schlechte Nachricht.

    Die Herrschaft der Hamas würde für sie weitere Jahrzehnte der Isolation, Armut und Radikalisierung bedeuten. Ich hoffe, dass auch die Zivilbevölkerung in Gaza sich gegen die Hamas stellt.

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    ZDFheute: Israel ist stolz darauf, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Vor dem Hamas-Terror gingen Hunderttausende Israelis auf die Straßen, um gegen die Justizreform zu demonstrieren. Israel war zunehmend gespalten. Zudem hatte die israelische Regierung ihre Siedlungspolitik vorangetrieben. Hat Netanjahu den Wind gesät …?
    Mendel: Netanjahu und seine rechtsextremen Verbündeten haben viel Unheil angerichtet: nach Innen mit dem Angriff auf die israelische Demokratie und nach Außen mit dem weiteren Ausbau der Siedlungen und der Schwächung der gemäßigten Kräfte in der Westbank. Sehr viele Israelis, inzwischen vermutlich die deutliche Mehrheit, verstehen das und fordern den Rücktritt der Regierung nach dem Krieg.
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    ZDFheute: Was kann man tun gegen diese Mechanismen der Eskalation, der Rache, gegen die Logik des Krieges? Ist überhaupt Platz für die von Ihnen immer wieder angemahnte Differenzierung?
    Mendel: Wenn nach dem Krieg das Hamas-Regime in Gaza beendet wäre und auch die Regierung von Benjamin Netanjahu zurückgetreten oder abgewählt würde, dann bestünde doch noch eine kleine Hoffnung auf Frieden.

    Die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten ist erschöpft und traumatisiert. Es gibt viel Hass. Aber noch größer ist der Wunsch nach Ruhe und Frieden.

    Es braucht mutige Politiker auf beiden Seiten, die hier neue Visionen wagen und für Verständigung und Versöhnung glaubhaft eintreten können.
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    ZDFheute: Israel will nach einer Entmachtung der Hamas "für unbestimmte Zeit" die "Verantwortung für die Sicherheit" im Gazastreifen übernehmen - was wohl als militärische Besatzung zu verstehen ist. Wie schätzen Sie diese Aussage ein? Gibt es aus Ihrer Sicht ein anderes Szenario?
    Mendel: Die Israelis wissen, dass sie langfristig nicht in Gaza bleiben können. Das würde bedeuten, dass sie die Verantwortung für das Leben von 2,3 Millionen Palästinensern übernehmen müssten, mit allem, was damit verbunden ist - vom Wiederaufbau der Infrastrukturen bis zur Schaffung von Arbeitsplätzen und einer funktionierenden Verwaltung.
    Strategisch scheint mir die einzige vernünftige Lösung, Gaza in einem möglichst geordneten Prozess unter die Verwaltung der gemäßigten PLO in Ramallah zu überführen. Dafür muss die PLO von Israel und der internationalen Gemeinschaft gestärkt werden, mit dem klaren Ziel, endlich einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 zu gründen.
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    US-Außenminister Blinken ist mit Palästinenserpräsident Abbas zusammengetroffen. Die USA setzen sich für eine Kampfpause im Gaza-Streifen ein, um humanitäre Hilfe zu ermöglichen.05.11.2023 | 0:26 min
    ZDFheute: Wenn Sie von einer Lösung in den Grenzen von 1967 sprechen, welche Voraussetzungen müssten erfüllt sein? Das Ende der Hamas? Das Ende der jüdischen Siedlungspolitik?
    Mendel: Sowohl als auch. Solange die Hamas in Gaza regiert, solange die Siedlerbewegung den Ton im israelischen Kabinett angibt, wird der Konflikt weiter eskalieren. Meine Hoffnung ist, dass diese Erkenntnis nun auf beiden Seiten angekommen ist.
    Das Interview führte ZDF-Hauptstadtkorrespondentin Britta Spiekermann.

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