Anruf aus Israel: "Bombardierung beginnt in zwei Stunden"

    Palästinenser evakuierte Viertel:Anruf aus Israel: Gleich wird bombardiert

    Oliver Klein
    von Oliver Klein
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    Die Geschichte, die die BBC von Mahmoud aus Gaza berichtet, klingt wie ein Thriller: Ein israelischer Agent ruft an und befiehlt, die Umgebung zu evakuieren. Dann fallen Bomben.

    Palästinenser gehen an Gebäuden vorbei, die bei der israelischen Bombardierung auf al-Zahra am Stadtrand von Gaza-Stadt zerstört wurden
    Palästinenser an zerstörten Wohnblocks in der Gemeinde al-Zahra am Stadtrand von Gaza-Stadt.
    Quelle: AP

    Der Anruf kam morgens um halb sieben von einer unterdrückten Nummer. "Hier ist der israelische Geheimdienst", sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung in akzentfreiem Arabisch. So berichtet es Mahmoud Shaheen aus al-Zahra, einer Gemeinde südlich von Gaza-Stadt. "Er sagte mir, er wolle drei Wohnhochhäuser bombardieren und befahl mir, die umliegende Gegend zu evakuieren."
    Israel warnt die Bewohner des Gazastreifens teilweise vor Luftschlägen. Nach eigenen Angaben habe es bisher im Gaza-Krieg Millionen von Anrufen, SMS und Flugblättern mit Warnungen gegeben. Der erste überraschende Anruf bei Shaheen dauerte wohl über eine Stunde, es folgten weitere. Am Ende musste er mit eigenen Augen zusehen, wie sein Viertel in Schutt und Asche gelegt wurde.
    Ein Bericht der BBC erzählt die dramatischen Ereignisse am 19. und 20. Oktober nach. Mehrere Bewohner von al-Zahra hatten dem Bericht zufolge Shaheen als den Mann identifiziert, der den Warnanruf erhalten hatte. Die Details seiner Erzählungen stimmen laut den BBC-Recherchen mit Angaben in einer Facebook-Gruppe vom selben Tag sowie mit Satellitenbildern vor und nach dem Bombenangriff überein.
    Das Bild zeigt die Außenseite des Al-Shifa Krnakenhaus in Gaza Stadt am 10.11.2023.
    Das Al-Schifa-Krankenhaus, die größte Klinik im Gazastreifen, ist nach Angaben eines Arztes nicht mehr in Betrieb. Neben Stromknappheit stehe das Gebäude unter Beschuss. 11.11.2023 | 0:24 min

    Warnschuss als Beweis verlangt - und bekommen

    Mahmoud Shaheen, ein 40 Jahre alter Zahnarzt, sagt, er habe keine Ahnung, warum ausgerechnet er für den Auftrag ausgewählt wurde. Sein Wohnblock sei nicht direkt bedroht gewesen - doch er selbst war offenbar plötzlich für die Evakuierung Hunderter Menschen verantwortlich.

    Ich hatte das Leben der Menschen in meinen Händen.

    Mahmoud Shaheen, Zahnarzt in Gaza

    Er habe es zunächst nicht glauben können, berichtet Shaheen. Manche hätten ihn noch gewarnt, dass der Anruf ein Fake sein könnte. Darum habe er den Mann am Telefon gebeten, einen Warnschuss abzufeuern, um zu beweisen, dass die Gefahr real sei. Wie aus dem Nichts donnerte eine Explosion - ein Warnschuss traf einen der gefährdeten Blocks. Möglicherweise wurde er von einer Drohne abgefeuert, wird Shaheen zitiert.

    Zuerst drei Wohnblocks zerstört

    Als Shaheen den Mann fragte, warum die Gegend bombardiert werden solle, habe der geantwortet:

    Es gibt einige Dinge, die wir sehen, die Sie nicht sehen.

    Israelischer Geheimdienstmitarbeiter

    Die Bombardierung sei "ein Befehl von Leuten, die größer sind als ich und Sie", habe der Mann gesagt.
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    Shaheen sei daraufhin durch die Gegend gelaufen und habe die Menschen aufgefordert, sich sofort in Sicherheit zu bringen. Die ganze Zeit über sei der Geheimdienstmitarbeiter am Telefon gewesen. Als die Bereiche rund um die fünfgeschossigen Gebäude frei von Menschen waren, habe der Mann Shaheen die Bombardierung angekündigt. Über ihnen kreiste dem Bericht zufolge bereits ein israelisches Flugzeug. Drei Wohnblocks wurden zerstört.
    Gemeinde al-Zahra südlich von Gaza-Stadt im zentralen Gazastreifen, nachdem sie durch israelische Bombardierungen verwüstet wurde.
    Al-Zahra im Gazastreifen: Der erste Luftschlag traf drei Blocks (rote Markierung), 22 weitere Blocks wurden beim zweiten Luftschlag zerstört (orange Markierung)
    Quelle: AFP

    Agent kannte Details aus Shaheens Familie

    Damit nicht genug: Noch am selben Abend klingelte erneut Shaheens Handy, wieder eine unterdrückte Nummer. Diesmal sei ein anderer Mann in der Leitung gewesen, der sich als Daoud vorstellte. Er habe gesagt, man hätte erkannt, dass Shaheen ein "weiser Mann" sei, weshalb sie ihn erneut anriefen. Laut Shaheens Erzählungen habe der Agent erschreckend viel über ihn und sein Leben gewusst, ihn sogar auf seinen Sohn angesprochen, dessen Namen er kannte.
    Diesmal kündigte der Mann zunächst an, dass drei weitere Wohnblocks zerstört würden - später dann hieß es, dass die ganze Reihe von Blocks angegriffen werde, insgesamt 22 weitere Häuser mit Hunderten Wohnungen. Shaheen versuchte nach eigenen Angaben, mehr Zeit für die Evakuierung herauszuschlagen, doch der Agent habe emotionslos geantwortet, dass in zwei Stunden alle Wohnblocks bombardiert würden.

    Akku leer - Geheimdienst ruft beim Nachbarn an

    Shaheen sei daraufhin von Block zu Block gerannt, habe die Bewohner angeschrien, sie sollen das Gebiet räumen. Chaotische Szenen hätten sich abgespielt, weil viele nicht wussten, wohin sie fliehen können. Weinende Kinder hätten ihre Eltern im Chaos verloren. Bewohner hätten Shaheen immer wieder gefragt, ob es Neuigkeiten gebe, ob sie zurück in ihre Häuser können, welches Haus es als nächstes treffen würde.
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    Während Shaheen noch am Telefon war, seien die Gebäude eines nach dem anderen zerstört worden. Irgendwann, so erzählt es Shaheen in dem BBC-Bericht, habe ihn die Stimme am Telefon gefragt, wie viel Akku er noch habe. Weil sein Handy schon bald leer sein würde, habe ihm der Agent gesagt, er solle auflegen, er würde wieder zurückrufen. Irgendwann habe das Telefon eines Nachbarn geklingelt und die Stimme nach Mahmoud Shaheen gefragt.

    Angriff forderte offenbar keine Todesopfer

    Hunderte Menschen sind an diesem Tag und in der darauffolgenden Nacht obdachlos geworden. Die Menschen mussten fliehen, mit dem, was sie tragen konnten. Häuser in der Gegend, die nicht zerstört wurden, sind nun ohne Strom und Wasser.
    Auch Shaheens Block ist stark beschädigt worden. Doch Dank seines Einsatzes wurde bei den Angriffen offenbar niemand in dem Viertel getötet.

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