Gegenoffensive: Ukraine auf See erfolgreicher als an Land

    Analyse

    Gegenoffensive hinter Erwartung:Ukraine auf See erfolgreicher als an Land

    von Christian Mölling, András Rácz
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    Die erhofften Gebietsgewinne des ukrainischen Militärs bei Saporischschja sind hinter den Erwartungen zurück geblieben. Die Angriffe im Schwarzen Meer waren jedoch erfolgreich.

    Ein ukrainischer Militärangehöriger trägt einen Skif-Panzerabwehrraketenwerfer zu einer Position an der Front, inmitten des russischen Angriffs auf die Ukraine, in der Region Saporischschja, Ukraine, 20. 10. 2023.
    Ukrainische Soldaten konnten in der Region Saporischschja längst nicht so viel erreichen, wie erhofft.
    Quelle: Reuters

    Die Gegenoffensive der Ukraine, die Anfang Juni 2023 begann, darf nicht isoliert, sondern muss im Kontext der gesamten strategischen Lage bewertet werden. Die Beurteilung eines Krieges allein auf der Grundlage der Entwicklung eines einzelnen Frontabschnitts ergibt kaum ein genaues Bild.
    Saporischschja war eindeutig die Hauptrichtung der Offensive, aber nicht die einzige. Die ukrainischen Angriffe bei Bachmut waren integraler Bestandteil der gleichen Bemühungen.

    Saporischschja: Weitgehender Stillstand

    Die Gegenoffensive im Süden blieb deutlich hinter den ursprünglichen Erwartungen sowohl der ukrainischen Seite als auch des Westens zurück. Auch wenn es nicht möglich ist, die ursprünglichen ukrainischen Pläne aus offenen Quellen zu rekonstruieren, so ist doch klar, dass sowohl die Gesellschaft als auch wesentliche Teile der politischen Elite hohe Erwartungen hatten.
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    Dazu gehörte die massenhafte Befreiung der besetzten Gebiete, möglicherweise sogar der Krim. Eine weitere, häufig geäußerte Hoffnung war die Unterbrechung der für Russland wichtigen logistischen Route, die durch die besetzte Region Saporischschja führt.
    Keine dieser Hoffnungen konnte erfüllt werden, die meisten davon nicht einmal teilweise. Anstatt den größten Teil des besetzten Südens zu befreien, gelang es der Ukraine nur, einige Dörfer zurückzuerobern.
    Die Tiefe der russischen Verteidigungsanlagen konnte nirgendwo durchbrochen werden. Offensichtlich blieb die Krim für die Bodenoperation unerreichbar: Nicht einmal die Stadt Tokmak konnte bisher zurückerobert werden, obwohl sie für die Bedrohung der wichtigsten russischen Ost-West-Nachschublinien von wesentlicher Bedeutung ist.

    Anpassungsfähigkeit der Ukraine

    Die Kämpfe in Richtung Saporischschja zeigten jedoch schnell die Fähigkeit der ukrainischen Armee, sich an die unvorhergesehenen Umstände anzupassen. Versuche, groß angelegte mechanisierte Operationen durchzuführen, wurden rasch aufgegeben, als ihre Undurchführbarkeit erkannt wurde.
    Die Ukraine änderte ihre Taktik bereits zwei Wochen nach Beginn der Gegenoffensive und ging zu einem langsameren, methodischeren und auf Zermürbung basierenden Vorgehen über (im Gegensatz zu den Russen, die bereits seit fast einem Monat eine Angriffswelle nach der anderen gegen Awdijivka starten).

    Zermürbung und Abnutzung Russlands erfolgreich

    Was die Zermürbung und Abnutzung betrifft, so ist die ukrainische Gegenoffensive alles andere als ein Misserfolg. Die Kämpfe an der Saporischschja-Front und insbesondere die schweren Verluste durch die ukrainischen Präzisionsartillerieschläge zwangen Russland, hier selbst seine besten Einheiten einzusetzen und sie für den infanteristischen Grabenkrieg zu nutzen, wie die 76th Guards Air Assault Division.
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    Bachmut: Russland zurückgedrängt

    Außerdem haben die ukrainischen Streitkräfte in Bakhmut wichtige Erfolge erzielt und die Russen aus den Gebieten nordwestlich und südwestlich der Stadt zurückgedrängt. Der Vormarsch geht weiter, wenn auch langsam, und zwingt Russland, immer mehr Truppen hier zu stationieren.

    Andere Frontabschnitte: Ablenkung und Abwehr

    Die am linken Ufer des Dnipro durchgeführten Angriffe sind von geringerer operativer Bedeutung; als Ablenkungsmanöver scheinen sie jedoch gut zu funktionieren.
    Parallel dazu gelang es der Ukraine, die russische Offensive bei Kupjansk daran zu hindern, nennenswerte Gebiete zu erobern.

    Schwarzes Meer: Russische Flotte zurückgedrängt

    Die wichtigsten Erfolge der Ukraine wurden jedoch nicht an Land, sondern auf dem Meer erzielt. Das Getreideabkommen, offiziell die Schwarzmeer-Getreide-Initiative, funktionierte vom 22. Juli 2022 bis zum 17. Juli 2023. Nach der Aufkündigung durch Russland bestand die reale Gefahr, dass die Möglichkeiten der Ukraine, Getreide auf dem Seeweg zu exportieren, entscheidend schrumpfen würden, was massive wirtschaftliche Schäden für das Land zur Folge hätte.
    Seit Anfang August ist es der Ukraine jedoch gelungen, die russischen Seestreitkräfte aus dem westlichen Becken des Schwarzen Meeres zu verdrängen. Die Gasförderplattformen im Meer, die Russland als Radar- und Sensor-Plattformen nutzte, wurden befreit. Durch eine Reihe von Präzisionsangriffen mit Drohnen und Raketen wurden zwei große russische Überwasserkampfschiffe (zwei große Landungsschiffe der Ropucha-Klasse) und ein modernisiertes U-Boot der Kilo-Klasse schwer beschädigt und mehrere kleinere Schiffe beschädigt.
    Ein Frachtschifft fährt durch den temporären Getreidekorridor auf dem schwarzen Meer.
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    Getreideexporte wieder ermöglicht

    Präzisionsangriffe trafen das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte sowie mehrere Luftverteidigungsanlagen auf der Krim. Daraufhin stellten die Schiffe der Schwarzmeerflotte ihre Tätigkeit im westlichen Meeresbecken ein, so dass die Ukraine den Getreideexport auch von den großen Seehäfen in Odessa aus wieder aufnehmen konnte.
    Alles in allem war die Gegenoffensive an der Saporischschja-Front wenig erfolgreich, während sie bei Bachmut viel besser verlief und die Ukraine darüber hinaus strategisch wichtige Gewinne im Schwarzen Meer erzielte. Die Behauptung, die Ukraine habe seit Juni 2023 nichts mehr erreicht und die letzten fünf Monate seien ein totaler Misserfolg für die Ukraine gewesen, entspricht also zum Glück nicht der Realität.



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