Infiltrierte Behörden: Wie Neonazis "Feind-"Adressen sammeln

    Infiltrierte Behörden:So sammeln Neonazis Adressen ihrer Feinde

    von Michael Trammer und David Speier
    |

    Hassanrufe, Drohnachrichten, Stalking. Wer ins Fadenkreuz extrem Rechter gerät, muss in Deutschland damit rechnen, auf deren sogenannten "Feindeslisten" zu landen.

    Regelmäßig werden bei polizeilichen Razzien gegen Rechtsextremisten entsprechende Listen gefunden - etwa beim sogenannten NSU, der Gruppe "Nordkreuz" oder dem Bundeswehrsoldaten Franco A.. Auch die Adresse des 2019 ermordeten ehemaligen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke findet sich auf so einer Liste.
    Meist sind es Antifaschist*innen, Journalist*innen und Personen mit lokalem Bezug, die als Feinde markiert werden. Es handelt sich keinesfalls um eine Lappalie: Die Betroffenen sind einer Mischung aus Online-Belästigung und der Angst, zum Ziel werden zu können, ausgesetzt. In vielen Fällen ist unklar, woher die persönlichen Informationen der Betroffenen stammen.
    Nahaufnahme eines männlichen Gesichts
    Geständnisse eines Neonazis: In Teil 1 berichtet "Michael" über rechte Gesinnungsschulungen und Waffentrainings.10.05.2023 | 34:56 min

    Datenabfragen für Rechtsextreme "bestimmt 100 Mal"

    Der Neonazi-Aussteiger "Michael" berichtet in der ZDF-Dokuserie "Geständnisse eines Neonazis", wie er über eine Bekannte in einer Behörde Daten abfragen ließ. Beispielsweise hätte man so Kameradschaftsanwärter überprüft, nach den Adressen von unliebsamen Journalist*innen gesucht oder Feinde aufgespürt.

    Ich schätze mal, dass sie bestimmt 100 Mal persönliche Daten an Neonazi-Freunde weitergegeben hat, obwohl sie das natürlich nicht darf.

    "Michael", Anonymer Aussteiger aus dem Rechtsextremismus

    Abgefragt habe die Rechtsextreme beispielsweise das Alter, die Adresse oder den Arbeitgeber der Zielperson. "Michael" erzählt, die Daten seien auf Listen geschrieben worden oder "Leute bekommen Besuch".
    Die Datenabfragen sind der zuständigen Behörde auf Anfrage nicht bekannt, "könnten dennoch nicht komplett ausgeschlossen werden". Bei einem festgestellten Verstoß gegen die Vertraulichkeitspflichten drohten der Mitarbeiterin "erhebliche arbeits- oder dienstrechtliche sowie gegebenenfalls strafrechtliche Konsequenzen", so die Behörde.

    Es gibt rechte Frauen in verschiedenen Ämtern, bei Versicherungen oder anderen Dienstleistern, die Zugriff auf vertrauliche Daten haben. Die Frauen verdienen Geld und das am Besten in Berufen, die für die Szene wichtig sind.

    "Michael", Anonymer Aussteiger

    Drohschreiben unterzeichnet mit "NSU 2.0"

    Welches Ausmaß die Drohschreiben annehmen können, zeigt der Fall der Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız. Die Strafverteidigerin vertritt seit Jahren die Angehörigen der Opfer rechtsextremer Gewalt in Prozessen. So etwa die Familie Şimşek im NSU-Prozess oder eine Familie der Opfer des OEZ-Attentats in München.
    Sie selbst erhielt seit 2018 mehrere Drohschreiben, die persönliche Daten enthielten und mit dem Kürzel "NSU 2.0" unterzeichnet waren. Sie habe sich dann gefragt: "Kommt da jetzt wirklich jemand um die Ecke und tut meinem Kind etwas an?" sagt Başay-Yıldız, die auch in der ZDF-Dokureihe zu Wort kommt.
    Die Anwältin und ihre Familie erhielten Polizeischutz, der Täter wurde 2022 unter anderem wegen der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten und Volksverhetzung verurteilt. Es konnte nie abschließend geklärt werden, wie er an die Daten gelangen konnte, die in einem Frankfurter Polizeirevier abgerufen worden waren.

    "Feindeslisten" für Planung von Straftaten

    Die Motive innerhalb der extrem rechten Szene, Personen auf Listen zu schreiben, haben eine lange Tradition und sind vielfältig. "Feindeslisten" dienen als Planungsgrundlage für Straftaten, als Instrument der Einschüchterung oder als Vorbereitungmaßnahme für einen "Tag X", an dem Feinde liquidiert werden sollen.

    Nahaufnahme eines männlichen Gesichts.
    Quelle: ZDF/sendefähig

    Über Jahrzehnte war "Michael" in der rechten Szene, hat umfassendes Wissen aus dieser Welt. In der Dokuserie "Geständnisse eines Neonazis" packt "Michael" aus. Um seine Anonymität zu wahren, werden "Michael" und seine Erzählung virtuell animiert - eine Innovation. Den Dreiteiler finden Sie hier in der ZDFmediathek.

    Die Daten werden nicht immer nur intern gesammelt, sondern auch über Webseiten, Messenger-Dienste und Telegramgruppen verbreitet, um politische Gegner*innen einzuschüchtern. Verbreitung findet auch immer wieder ein Datensatz eines Punkrock-Versandhandels, der 2015 von Rechtsextremen veröffentlicht wurde. Die Listen weisen regelmäßig Schnittmengen auf.

    Gefahr: Engagierte Menschen ziehen sich zurück

    Laut einer kleinen Anfrage im Bundestag sind dem BKA bis zum Jahr 2021 24 "Feindeslisten" aus dem Bereich der politisch motivierten Kriminalität bekannt geworden. Ein Großteil der Daten stammt aus allgemein zugänglichen Quellen.
    Ob Personen, die auf "Feindeslisten" stehen, davon erfahren, ist von den einzelnen Behörden der Länder abhängig. Eine ernstzunehmende Gefahr findet Başay-Yıldız:

    Das Letzte, was in der Demokratie passieren darf, ist, dass sich Menschen, die sich sozial engagieren, eingeschüchtert sind und sich vollkommen zurückziehen.

    Seda Başay-Yıldız, Rechtsanwältin

    Mehr über Rechtsextremismus