75 Jahre Staatsgründung: Israel feiert in Krisenzeiten

    Geburtstag in der Krise:Israel: 75 Jahre bewegte Geschichte

    Michael Bewerunge
    von Michael Bewerunge
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    75 Jahre nach Gründung blickt Israel auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Seitdem hat es keine innenpolitische Krise erlebt, die so schwer war wie die jetzige.

    Feiern zum Unabhängigkeitstag in Israel - Flaggen wehen im Wind (Archivbild)
    Feiern zum Unabhängigkeitstag in Israel (Archivbild)

    Glückwünsche zum 75. Geburtstag - so einfach lassen die sich in Israel nicht überbringen. Das beginnt schon mit dem richtigen Datum: Die Israelis feierten das Jubiläum schon vor einer Woche, nach dem jüdischen Kalender am 26. April. Nach dem gregorianischen Kalender rief David Ben-Gurion den jüdischen Staat am 14. Mai 1948 aus - und wurde dessen erster Ministerpräsident. Aber vielleicht kommt der Glückwunsch in der Mitte zwischen diesen Daten ja genau richtig an.
    auslandsjournal: 75 Jahre Israel
    Israels 75. Jahrestag steht im Schatten der schwersten innenpolitischen Krise seit Staatsgründung. Das Land ist gesellschaftlich, politisch und religiös tief gespalten und die rechtsextreme Regierung versucht die Organe des Rechtsstaats zu zerlegen.04.05.2023 | 29:12 min
    Beglückwünschen kann man Israel zu vielen Dingen, denn viel haben seine Bürgerinnen und Bürger in den letzten Jahrzehnten erreicht. Auf der anderen Seite sind viele Konflikte offen und neue haben sich aufgetan. Das geht schon mit der Staatsgründung 1948 los.

    Der Staat Israel wurde am 14. Mai 1948 gegründet - nach dem gregorianischen Kalender, der in den meisten Ländern der Erde gilt; auch in Deutschland.
    Die Israelis feiern Ihren Unabhängigkeitstag jedoch nach dem jüdischen Kalender. Nach diesem Kalender proklamierte der erste Premierminister Israels, David Ben Gurion, am 5. Tag des 8. Monats (Ijjar) die Unabhängigkeit des Landes. Somit fällt der 75. Jahrestag der Staatsgründung auf den 26. April 2023 der westlichen Zeitrechnung.

    Israel: Sehnsuchtsort der Juden wurde Realität

    Nach zwei Jahrtausenden antisemitischer Verfolgung und auferstanden aus der Asche des Holocaust wurde der Sehnsuchtsort von Juden auf der ganzen Welt Realität. Aber schon am Tag nach der Gründung überfielen sechs arabische Nachbarstaaten den jungen Staat. Doch Israel behauptete sich, wie in allen Kriegen, die noch folgen sollten.
    Für Hunderttausende Palästinenser bedeutete dieser Neuanfang auf der anderen Seite die "Nakba", die große Katastrophe. Flucht und Vertreibung aus den Gebieten, in denen sie seit Hunderten von Jahren gesiedelt hatten. Bis heute bleibt ihnen ihr Wunsch nach Selbstbestimmung in einem eigenen Staat verwehrt. Aus den arabischen Nachbarstaaten wurden nach 1948 übrigens genauso hunderttausende Juden vertrieben. Die meisten fanden eine neue Heimat in Israel.
    Von allen Kriegen, die Israelis und Araber führten, wirkt der Sechstagekrieg von 1967 am stärksten nach. Israel eroberte Ost-Jerusalem, Gaza und das Westjordanland. Gebiete, die nach dem UN-Teilungsplan von 1947 größtenteils den Palästinensern zustehen. Für viele Israelis aber rückte auf einmal die Wiederherstellung des biblischen Israels in den Bereich des Möglichen.

    Gewalt und Terror an fast jedem Tag der letzten 75 Jahre

    Mit den Jahren wurde die Besatzung zum Dauerzustand, ein Friede zweier Staaten rückte in immer weitere Ferne. Stattdessen siedelten immer mehr nationalistische Zionisten in den besetzten Gebieten, inzwischen über 700.000. Ihr religiöses Sendungsbewusstsein von einem Groß-Israel ist heute stärker denn je. Sie und ihre politischen Vertreter in der Regierung beanspruchen das Westjordanland, manche wie Finanzminister Bezalel Smotrich gleich ganz Jordanien dazu.
    Auf der anderen Seite haben die haben die haben die Palästinenser viele Chancen verstreichen lassen. Terrororganisationen wie Hamas und Islamischer Jihad bekennen sich bis heute nicht eindeutig zum Existenzrecht Israels. Beide Fronten sind ineinander verkeilt. Gewalt und Terror an fast jedem Tag der letzten 75 Jahre sind die Folge. Der Friedensprozess ist tot. Zu seiner Wiederbelebung gibt es bei den wichtigen Playern in der Region wie den USA noch nicht mal einen Plan für einen Plan.

    Vom sozialistischen Agrar-Kibbuz zur Startup-Nation

    Nach den Friedensverträgen mit Ägypten und Jordanien folgten zuletzt weitere mit anderen arabischen Staaten der Region, wie den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ein vielversprechendes Vertragswerk, aus dem ein wirtschaftlicher Boom für die ganze Region entstehen könnte. Die Konflikte mit Syrien, dem Libanon und dem nach nuklearer Macht strebenden Iran sind geblieben. Letzterer droht immer wieder mit der Vernichtung Israels.
    Israel selbst hat den Wandel vom sozialistischen Agrar-Kibbuz zur Startup-Nation vollzogen. Die Exporte im High-Tech Bereich machen inzwischen 50 Prozent aus. Das Land kann hohe Wachstumsraten vorweisen, ist dabei in den Kreis der G20 vorzustoßen, zu den potentesten Wirtschaftsnationen der Welt.
    "Kippa, Kirchen und Koran - Konfliktherd Jerusalem": Minarett mit Stacheldraht in Jerusalem.
    Für Juden, Christen und Muslime ist Jerusalem das Zentrum ihres Glaubens. Doch das Zusammenleben der drei Religionen in der Heiligen Stadt ist alles andere als einfach.28.08.2020 | 28:55 min

    Starker Einfluss der Ultra-Orthodoxen

    Zu den Konflikten im Äußeren kommen die im Inneren. Wie der um die jüdische Identität. Bis heute ist die Integration der Ultraorthodoxen in die Gesellschaft nicht gelungen. Ihr Anteil an der Bevölkerung - derzeit bei 14 Prozent - wächst schnell. Beten ist ihr Lebensinhalt, in den Schulen studieren sie die Thora statt Englisch und Mathematik, zum Militär müssen sie nicht. Einer geregelten Arbeit gehen meistens allenfalls die Frauen nach. Ein Leben in einer Parallelwelt.
    Schon bei Gründung Israels war der Einfluss der Ultra-Orthodoxen so stark, dass die Gründer um Ben-Gurion ihnen viel Macht einräumten, aus Rücksicht keine Verfassung festschrieben. Ein Geburtsfehler, der sich heute rächt.

    Ben-Gurion sah das nicht kommen.

    Uriel Abuloff, Tel Aviv University

    "Er dachte, wenn er den säkularen Zionismus fest etabliert und den Staat zu etwas fast Heiligem macht, also zu einer Art zivilen Religion, dass dies ein guter Ersatz sein würde. Dass da vielleicht ein paar Ultraorthodoxe übrigbleiben würden, ein paar Religiöse und Nationalreligiöse, aber das wirklich nur am Rande."
    "37°Leben - Ultraorthodox? Nein danke!": Oriya feiert den jüdischen Feiertag Schabbat.
    Das Leben in ultraorthodoxen Gemeinden ist hermetisch und streng geregelt. Viele junge Jüdinnen und Juden wollen aussteigen. Wie schaffen sie den Weg in die Freiheit?01.04.2022 | 26:59 min
    Heute beanspruchen ultra-orthodoxe und religiös-extremistische Parteien immer mehr Einfluss in der Gesellschaft. Das reicht von religiösen Regeln im Alltag bis hin zu tiefgreifenden Veränderungen der demokratischen Architektur. Noch ist Israel eine lebendige Demokratie mit einer breiten Vielfalt an Medien und Meinungen. Jeden Tag wird frei und öffentlich um die Probleme des Landes gestritten und gerungen. Auch und gerade um die hier beschriebenen. Das gibt es in keinem der arabischen Nachbarstaaten in tausenden Kilometern Umkreis.
    Doch ausgerechnet zum 75. Geburtstag ist das Land gespalten wie nie, ein tiefer Riss geht mitten durch die Gesellschaft. Die Regierung Netanjahu mit ihren ultra-religiösen Parteien und den religiös-extremistischen Siedlerparteien legt Hand an die Demokratie selbst. Sie planen, die Gewaltenteilung grundlegend auszuhebeln. Eine Mehrheit der Knesset soll Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs überstimmen dürfen. Justizreform nennen sie das.

    Kein Schutz der Gewaltenteilung

    Offenbar gab es bei der Staatsgründung 1948 einen weiteren Geburtsfehler. Die Gründer um Ben-Gurion verzichteten auf manche "checks und balances" zum Schutz der Gewaltenteilung - eine geschriebene Verfassung, eine zweite Kammer, ein Verfassungsgericht. Mit dramatischen Folgen, sagt Abuloff:
    "Die Agenda dieser Koalition, insbesondere der Führer dieser Koalition besteht darin, Israels Demokratie auszulöschen. Es wird keine Demokratie mehr existieren, wenn sie Erfolg haben. Die Gewaltenteilung in Israel sichert einzig und allein der Oberste Gerichtshof."

    Wir haben nichts anderes. Beseitigen Sie den und es gibt keine Demokratie mehr.

    Uriel Abuloff, Tel Aviv University

    Demonstranten in Israel halten israelische Flaggen in die Luft.
    Im Schatten einer Verfassungskrise feiert Israel seinen 75. Jahrestag der Staatsgründung. Neben Feierlichkeiten gab es auch Proteste gegen die geplante Justizreform der Regierung.26.04.2023 | 1:20 min

    Proteste gegen Justizreform gehen weiter

    Hunderttausende sind jede Woche auf den Straßen, um gegen diese Aushebelung der Gewaltenteilung zu demonstrieren. Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft: Richter, Beamte, Unternehmer - Rentner, Studenten, Soldaten. Noch nie hat sich in Israel ein so breites Bündnis für ein gemeinsames Ziel zusammengefunden. Viele waren vorher noch auf einer Demo. Es geht um nicht weniger als die Demokratie an sich.
    Und so hat Israels Demokratie im Moment größter Not doch Stärke bewiesen. Der demokratische Protest der Straße hat einen Etappensieg erreicht. Die Regierung hat die Umsetzung der Justizreform ausgesetzt und verhandelt mit der Opposition. Die Proteste aber gehen weiter. Die Menschen wissen: die Gefahr ist nicht gebannt. Aber ein Gefühl gemeinsamer Verantwortung ist entstanden. Das ist etwas, das Israel schon in vielen schwierigen Momenten seiner Geschichte stark gemacht hat.

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